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Die Leser einfangen im fragmentierten Markt

Trends im Verlagsgeschäft und im Lesemarkt geraten zum Verwirrspiel. Wo sind die »Book Lovers«, die Liebhaber komplexer Geschichten geblieben? Rüdiger Wischenbart über unbequeme Antworten auf neue Wettbewerber.

Rüdiger Wischenbart ist Berater, der besonders die digitale Transformation im internationalen Publishing Markt beobachtet und analysiert. Er ist programmverantwortlich für das jährlich im Frühjahr ausgerichtete Publishersʼ Forum in Berlin und buchreport-Korrespondent. (Foto: buchreport/TS)

Das Geschäft mit Büchern und den lesenden Konsumenten lässt sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Das bringt zwar manche Gewissheit ins Wanken, öffnet aber auch Perspektiven, um über den aktuellen Schlamassel der in Millionenzahl verschwindenden Buchkäufer hinaus zu denken.

Das Publishersʼ Forum in Berlin hat in diesem Frühjahr gut ein Dutzend Marktbeobachter quer durch Europa und über den Buchmarkt hinaus zusammengeführt, um Trends darzustellen und über vielerlei Grenzen hinweg Vergleiche anzustellen. Ins Auge fiel da sofort ein wenig überraschender Gleichklang in den fundamentalen Trends. Der deutschsprachige Markt steht nicht allein da im Eingeständnis, dass der Buchmarkt im Kern kontinuierlich schrumpft. Im Gegenteil, Deutschland findet sich bei allem Erschrecken über die von Börsenverein/GfK verloren gemeldeten 6 Mio Buchkäufer in nur 5 Jahren noch weitgehend in der Komfortzone:

  • Spanien erlitt einen Schrumpfungsprozess von mehr als einem Drittel im Marktvolumen seit der Krise von 2008, und selbst dieser Befund hält nur dank stabiler Exporte nach Lateinamerika.
  • Italien spürt zwar zuletzt wieder Boden unter den Füßen, jedoch um den Preis eines massiven Konzentrationsprozesses, in dem Mondadori durch die Übernahme des Publikumssegments von RCS auf einen übergroßen Marktanteil von geschätzt 30% kommt, gefolgt von Messagerie und Mauro Spagnol.
  • Selbst die wirtschaftlich vergleichsweise stabilen Niederlande sind mit rauen Winden und einem stetig schrumpfenden Buchmarkt konfrontiert.

Dabei ist Holland ein Leseland mit hoher Tradition, kleinteiliger Buchhandels- und Verlagslandschaft, noch dazu mit der einzigartigen Liebe, branchenweit zu kooperieren, vom Vertrieb über das Centraal Boek­huis (CB) bis zu gemeinschaftlich ausgerichteten Buchfestivals im ganzen Land. Und nicht zuletzt mit einer technologie-­affinen Grundstimmung unter den Konsumenten, bei gleichzeitiger Abwesenheit von Amazon, sieht man von privaten Importen englischsprachiger Bücher in der vielsprachigen Bevölkerung einmal ab.

Abb. 1: Entwicklung des niederländischen Buchmarkts:Die Buch-Verkäufe gehen stationär zurück (hellblau). Die Talfahrt wird durch den E-Commerce mit physischen Büchern (mittlere Fäche) und durch die E-Books (rot) zwar gemildert, aber letztlich nicht ausgeglichen. (Daten und Grafik: Centraal Boekhuis, Niederlande.)

Dennoch weist die Kurve insbesondere im Sortimentsbuchhandel seit einem Jahrzehnt stetig talwärts (s. Abb. 1).

 

Leser finden neue Wege

An diesem Punkt beginnt die Betrachtung aber erst spannend zu werden. Der ebenso stetige Zuwachs in den Online-Käufen, aber auch, wenngleich auf niedrigem Niveau, im digitalen Segment bringt ein ganz anderes Thema auf den Punkt: Im Vordergrund steht ein Strukturwandel und nicht so sehr ein linearer Verlust.

Das passt im Übrigen zum britischen Bild, wo eine Reihe von Jahren mit deutlichen Einbrüchen bei Print erst einmal, ab 2012 oder 2013 sogar weitgehend, durch das neue E-Book-Segment ausgeglichen wurde. Und neuerdings rückt mit digitalem Audio wiederum ein neues, dynamisches Format ins Bild und auch zugleich ein neues Vertriebs- und auch Geschäftsmodell: Streaming und/oder Abonnement als Wachstumstreiber.

Abb. 2: Die Entwicklung des E-Readings im niederländischen MarktDie Kurve der E-Book-Verkäufe wird immer flacher (rote Kurve), während das Ausleihen steil steigt. 2016/17 hat die Zahl der Leihen die Verkäufe übertroffen. (Daten und Grafik: Centraal Boekhuis, Niederlande.)

Wie rasch solcher Strukturwandel an Fahrt aufzunehmen vermag, zeigt wiederum das holländische Beispiel. E-Books als Kaufangebot konnten dort niemals wirklich verfangen. Aber neuerdings überholen die digitale Ausleihe in Bibliotheken und Abo-Angebote den E-Book-Verkauf. Eine Veränderung innerhalb weniger Jahre (s. Abb. 2).

 

Smartphones und die neue Hörbuch-Dynamik

Bis an diesen Punkt ließ sich noch konservativ und ohne großes Risiko der Buchmarkt mit seinen Vertriebsformen ins Auge fassen. Aber der Treiber und Vertriebskanal hinter den jüngst massiven Zuwächsen bei digitalen Hörbüchern, erst im anglophonen und jetzt auch in weiteren Märkten, ist das Smartphone. Der ständige Begleiter, mit dem wir zunehmend die wachen Stunden unseres Alltags organisieren, erweist sich als genuine Schnittstelle zu digitalen Büchern.

Nicht E-Books, sondern der Austausch mit Freunden über Bücher, der mobile Einkauf oder eben das Abrufen von Hörbüchern im Streaming, oft auch als ein Abonnement, das wir gar nicht gezielt für Bücher eingehen, wird so zunehmend der magische „Access Point“ für das Buchgeschäft. Mit zahlreichen Überraschungen:

  • Mehr Männer hören Bücher, als die sonst notorisch mehr lesenden Frauen.
  • Verlage gehen Deals mit Musikdiensten ein, wie unlängst der Harry-Potter-Originalverlag Bloomsbury mit Spotify.
  • Spitzenautorinnen wie Cornelia Funke produzieren ihre Audios selbst („Atmende Bücher“), über Studios, deren Portfolio sich von Popbands bis zu Werbeclips spannt.

 

Liebhaber komplexer Geschichten

Mobile Kommunikation: Junge Mediennutzer ‧beginnen ihre Online-Aktivitäten mobil, in der Regel via Smartphone. Wichtig fürs Marketing der Branche: Das gilt auch für buchaffine 21- bis 34-Jährige (die „Millennials“). Traditionelle Buchleser sind dagegen noch überwiegend über andere Online-Kanäle zu erreichen. Zahlen und Grafik: GlobalWebIndex

Vergessen wird, dass es auch unter den Millennials eine stattliche Gruppe von „Book Lovers“ gibt, die der Martktforscher Felim McGrath (GlobalWebIndex) identifiziert und untersucht hat. Und vielleicht sollte man den Begriff der „Book Lovers“ noch erweitern, auf eine vom Format unabhängige Beschreibung von Menschen mit Liebe für komplexe Inhalte und Geschichten, guter Bildung und Mittelstands-Lebensgewohnheiten, inklusive dem Hang, auch einmal den Lebenstakt zu verlangsamen. Aber auch diese Gruppe nutzt zunehmend einen anderen Zugangspunkt zu den Geschichten, nämlich „Mobile First“ (s. Abb.).

Die Geschichte rund um verloren gegangene Buchkäufer und das Smartphone- Dilemma lässt sich demnach auch anders herum erzählen: „Mobile is eating the world“, kalauerte Silicon-Valley-Analyst Ben Evans bereits 2014. Smartphones sind damit aber auch der Schlüssel für neue Zugänge zu „Book Lovers“ und Menschen, die gute Geschichten goutieren.

Das ist die andere Perspektive zum vorherrschenden Branchenblick, dass den Verlagen ihr Zielpublikum massiv wegbricht. Buchverlage fokussieren sich dagegen in ihrer großen Mehrheit auf ihre Kernkompetenz: also auf „das Buch“ oder „Buch zuerst“, in der Hoffnung, ein Stück weit die alternde Zielgruppe herkömmlicher Vielleser zurückzugewinnen. Und im Übergang werden die Verluste an Reichweite durch höhere Preise ausgeglichen. Dies lässt sich aktuell nicht nur in Deutschland, sondern auch in etlichen anderen Ländern beobachten. (s. Tabelle).

Weniger Absatz, höhere Preise

 UmsatzentwicklungAbsatzentwicklungPreisentwicklung 
 GesamtStationärGesamtStationärGesamtStationär
Deutschland–2,0%–2,9%–3,6%– 4,9%+1,6%+2,1%
Österreich–1,7%– 4,6%–3,8%–7,5%+2,2%+3,1%
Zeitraum: 2017, Daten: Media Control
Höhere Preise als Kompensation: Die Nachfrage nach Büchern geht zurück, schlägt aber nicht voll auf den Umsatz durch, weil höhere Preise erzielt werden, hier am Beispiel Deutschland und Österreich. Das hilft kurzfristig, erscheint aber nicht nachhaltig.

 

Strategie statt Strampeln

Eines der Marktforscher-Panels auf dem Publishers’ Forum (v.l.): Deniz Ulucan (Media Control), Susan Breeuwsma (Centraal Boekhuis), Enrico Turrin (FEP) und Rüdiger Wischenbart. (Foto buchreport/TW)

Dieser Preisreflex ist riskant und setzt die Hoffnung auf die Fabel vom Frosch im Milchfass, der dem Ertrinken entkommt, indem er strampelnd die Milch zu Butter schlägt. Tatsächlich ist aber eine strategische Antwort gefragt auf die Entwicklung, dass das Lesen von Büchern seine Alleinstellung als primärer Zugang zu guten Storys innerhalb weniger Jahre verloren hat und jetzt zunehmend Akteure wie Netflix oder auch Amazon, und demnächst Disney die großen Geschichten erzählen.

Zeitgleich ergibt es sich, dass Autoren immer weniger auf Verlage angewiesen sind, um ihre Storys an Leser zu bringen. Das übernehmen Plattformen wie Amazon und Kobo, Dienste wie Wattpad und Tolino. Zunehmend haben diese neuen Distributionsdienstleister sogar bessere Zugänge zu medienübergreifenden Verwertungen. Im Kern müssen sie auf ihren Plattformen nur – in Echtzeit – beobachten, welche Geschichten und Autoren das meiste Momentum entwickeln, um diesen dann für weiterführende Deals anzubieten.

Verlage geraten auch im Lizenzgeschäft mit ihren vergleichsweise eingeschränkten Mitteln in die Defensive. Sie werden bei bereits erprobten Autoren auch noch von deren Agenten immer öfter zu Abspielpartnern für nur noch ein Format unter mehreren angesehen – nämlich das herkömmliche Buch.

Zur Vielschichtigkeit und den Wechselbeziehungen gehört natürlich auch, dass plötzlich ein Youtuber in der SPIEGEL-Belletristik-Bestsellerliste ganz oben steht und der Verlag von diesem Erfolg überrascht mit Lieferschwierigkeiten zu kämpfen hat.

 

Amazon und die vielen Formate

Ein Blick auf die Bestsellerlisten und Charts ist auch in anderer Hinsicht erhellend. Die von buchreport erhobenen SPIEGEL-Bestsellerlisten zeigen die meistverkauften Titel, sortiert nach Buchformaten über alle Vertriebskanäle einschließlich des Marktführers Amazon, zur Orientierung von Handel und Buchkäufern. Auch Amazon selbst nutzt die SPIEGEL-Listen und auch diverse eigene in unbekannter Rhythmik aktualisierte Rankings.

Amazon erlaubt aber zugleich in seinen Präsentationen wie so oft einen anderen Blick auf die verwirrende Medienwelt, unabhängig von Formaten. Da werden Inhalte über alle Formate hinweg aufgefächert, gedruckt (ggf. in mehreren Formaten), E-Book, Hörbuch, der Zugang über die Programme „Kindle Unlimited“ und „Prime“. Genau diese breite Mischung repräsentiert den Kampf um die Aufmerksamkeit der Lesenden und Kaufenden.

 

Communitys im Fokus

Die daraus abzuleitende Lektion ist unbequem, wenngleich erhellend. Der Marktplatz für Bücher in all ihren Erscheinungsformen, Formaten, Produktions- und Vertriebsformen ist innerhalb weniger Jahre radikal fragmentiert. Verlage werden Wege finden müssen, alle diese unterschied­lichen Wege nicht nur parallel abzudecken, sondern sich auf ihnen offensiv und gut sichtbar zu bewegen und ihre Wertschöpfungsketten so zu organisieren, dass dies auch wirtschaftlich darstellbar ist.

Letztlich führt dies zurück zu den Anfängen der Geschichte von Verlagen, die im 19. Jahrhundert begonnen hatten, ein neues, gebildetes Publikum in weit verzweigten Landschaften und Städten mit guten Geschichten – dies gegen die damals allgegenwärtigen Zensoren – zu versorgen und zu diesem Behufe „Communitys“ und „Partnerschaften“ zu organisieren. Heute haben dies Amazon, Netflix, Spotify, aber auch die heimischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten übernommen. Aber im Kern handelt es sich um jenes althergebrachte Territorium, aus dem vor knapp zwei Jahrhunderten das Verlagsgeschäft erwachsen ist.

Rüdiger Wischenbart ruediger@wischenbart.com

Präsentationen und Studien

Die in diesem Artikel diskutierten und zitierten Marktstudien von Nielsen, Centraal Boekhuis, Media Control und GlobalWebIndex wurden am Publishersʼ Forum am 26. und 27. April 2018 in Berlin vorgestellt. Die Präsentationen sind großteils abrufbar unter: publishersforum.de/presentations-2018

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