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Das Doppelgesicht der Disruption

Disruption ist für Journalisten und Investoren ein Zauberwort. Kein Wunder, dass Gründer es ständig benutzen. Doch technologiegetriebene Disruption wirkt mittlerweile tief in die Gesellschaft hinein; der Ruf nach Zerschlagung der großen Plattformen wird lauter. Wann werden diese zurückrudern?

Im IT-Channel von buchreport.de erzählt der US-Informatikprofessor Moshe Y. Vardi unter Angabe der relevanten amerikanischen Originalquellen die Geschichte des Paradigmas von der „disruptiven Innovation“ und dessen Pervertierung.

 

Disruptive Innovation, ein von Clayton Christensen geprägter Begriff, beschreibt einen Prozess, bei dem ein Produkt oder eine Dienstleistung zunächst in einfachen Anwendungen am unteren Ende eines Marktes Fuß fasst, dann unaufhaltsam in den Markt vordringt und schließlich etablierte Wettbewerber verdrängt.

In einem berühmten Artikel der Zeitschrift „Harvard Business Review“ von 1995, „Disruptive Technologies: Catching the Wave, den Christensen gemeinsam mit J.L. Bower verfasste, erklären die Autoren, warum es führenden Unternehmen nicht gelingt, an der Spitze ihrer Branchen zu bleiben, sobald sich Technologien oder Märkte verändern. Als Beispiel wird in dem Artikel die Entwicklung der Festplattenindustrie von 1976 bis 1992 angeführt. In diesem Zeitraum verbesserte sich die Leistung von Festplattenlaufwerken in atemberaubendem Tempo, doch kein unabhängiges Festplattenunternehmen, das 1976 existierte, überlebte bis 1995.

Christensen spezifiziere das Konzept der disruptiven Innovation in seinem 1997 erschienenen Bestseller „The Innovator’s Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail„. Top-Führungskräfte aus dem Tech-Bereich wie Jeff Bezos von Amazon und der verstorbene Mitbegründer von Apple, Steve Jobs, nannten dieses Buch eine Pflichtlektüre für Führungskräfte aus dem Tech-Bereich.

Christensen wurde 2014 von Jill Lepore, einer Harvard-Geschichtsprofessorin, in einem Artikel der Zeitschrift „New Yorker“ mit dem Titel „The Disruption Machine heftig kritisiert. Untertitel dieser Arbeit: „Wo das Evangelium der Innovation irrt“. Lepore bezeichnet Christensens Quellen als „zweifelhaft“ und seine Logik als „fragwürdig“ und beschreibt die disruptive Innovation als „Wettbewerbsstrategie für ein Zeitalter des Terrors“. Ein Jahr später argumentierten Andrew A. King und Baljir Baatartogtokh in einem Artikel der MIT Sloan Management Review mit dem Titel „How Useful Is the Theory of Disruptive Innovation?“, dass die Idee nur wenig Vorhersagekraft habe. Andere Wissenschaftler dagegen nehmen Christensen in Schutz.

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Aber unabhängig vom Hin und Her der Debatte über die Folgen ist der Geist der disruptiven Innovation aus der Flasche, und kein wissenschaftlicher Streit wird ihn zurückbringen. Diese Lehre ist eine mächtige Geschichte, die den Aufstieg und Fall von Technologieimperien erklärt – unabhängig davon auch, ob man auf ihrer Basis Vorhersagen machen kann oder nicht. Mittlerweile ist sie tief in der Psyche des Silicon Valley verankert, und die Phrase „disruptive Innovation“ ist zu einem Mantra in den Businessplänen der dortigen Unternehmen geworden. Eben weil die Menschen an die Lehre der disruptiven Innovation glauben, prägt sie ihr Verhalten.

Die Ideologie der Disruption ist auch das Motto, das zumindest bis 2014 für Facebook galt: „Move fast and break things“. Überspitzt formuliert: Wenn du nichts kaputt machst, bist du nicht schnell genug. Ein Unternehmen, das diesen Ansatz verkörpert, ist der Fahrdienstleister Uber. Sein Geschäftsmodell, eine Plattform zu schaffen, die Fahrer und Fahrgäste zusammenbringt, war genial. Der von Uber angebotene Transportdienst war dem von Taxis weit überlegen, was zu seiner immensen Popularität und seinem rasanten Wachstum führte. Die Tatsache, dass diese Art der Beförderung in vielen Orten zumindest Deutschlands gegen die Straßenverkehrsordnung verstieß, wurde als reine Formsache ignoriert. Kein Wunder, dass einige Uber als „ein grenzwertiges kriminelles Unternehmen“ bezeichnen.

Diese Facebook-Ideologie legte Jonathan Taplin 2017 offen in seinem Buch „Move Fast and Break Things: How Facebook, Google, and Amazon Cornered Culture and Undermined Democracy„. Taplins Grundthese lautet, dass das Silicon Valley zunehmend „einer Art alptraumhaftem Kinderspielplatz ähnelt, der von übergroßen Babys bevölkert wird, die keine Ahnung von den Konsequenzen ihres Handelns haben.“

Die Argumentation des Buches ist zwar dünn, aber der Aufschrei gegen das Silicon Valley wird von Tag zu Tag lauter. In einem kürzlich erschienenen Artikel mit dem Titel „The Tech Industry’s Psychological War on Kids“ (deutsch: „Der psychologische Krieg der Tech-Industrie gegen Kinder“) behauptet der Kinderpsychologe Richard Freed: „Eltern haben keine Ahnung, dass hinter den Bildschirmen und Telefonen ihrer Kinder eine Vielzahl von Psychologen, Neurowissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern lauert, die ihr Wissen über psychologische Schwachstellen nutzen, um Produkte zu entwickeln, die die Aufmerksamkeit der Kinder im Interesse des Profits der Industrie fesseln.“

In der Tat haben Gespräche mit mehreren Führungskräften aus der Technologiebranche ergeben, dass diese ihre Kinder technikfrei erzogen haben, was der Öffentlichkeit ein Warnsignal hätte sein müssen!

Ursprünglich bot Christensen das Paradigma der „disruptiven Technologie“ als Erklärung für ein betriebswirtschaftliches Phänomen an. Was als Erklärung gedacht war, ist inzwischen zu einem Rezept mutiert – aus „Disruption“ wurde „Dinge zerstören“. In ihrem Streben nach einer schnellen Umsetzung vergessen Unternehmer oft, den breiteren Kontext ihrer Dienstleistungen oder Produkte und das menschliche und soziale Umfeld zu berücksichtigen, das ihre Innovation betrifft und verändert.

Technologie ist heute eine der wichtigsten Triebkräfte der Gesellschaft. Wenn man mit Hilfe von Technologie etwas zerstört, kann dies daher tiefgreifende negative gesellschaftliche Folgen haben. Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in der Welt klingt Taplins Behauptung, dass die Technologie die Demokratie untergräbt, gar nicht so abwegig. Es ist diese unbekümmerte Haltung gegenüber der Zerstörung von Dingen, die die „Wall Street Journal“-Kolumnistin Peggy Noonan dazu veranlasste, die Führungskräfte des Silicon Valley als „moralische Marsmenschen“ zu bezeichnen.

Wir sollten den erstaunlichen Fortschritt der Technologie in den letzten 70 Jahren feiern. Der Berufsstand der IT-Experten führt diesen tiefgreifenden Wandel an. Wir haben das Lenkrad in der Hand. Es liegt an uns, vorsichtiger zu fahren!

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