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Wie Games die Ansprüche an Medien verändern

Computerspiele sind Popkultur und Konsumfaktor. Berater Christoph Brosius erklärt im Channel Produktion & Prozesse auf buchreport.de, wie andere Medien Methoden des Game Designs nutzen können.

Computer- und Videospiele sind heute auf jedem Gerät verfügbar und zu einem prägenden Konsumfaktor geworden:

  • Heute spielen fast so viele Frauen wie Männer Games.
  • Zusammengerechnet sind es 58% der Deutschen.
  • Der Altersdurchschnitt der Gamer liegt bei 37,6 Jahren – Tendenz weiter steigend.
  • Ein durchschnittlicher, heute 21-jähriger Spieler hat in seinem Leben locker 10.000 Stunden gespielt.

Komplexität reduzieren: Christoph Brosius hat die spielerische Komplexitätsreduktion durch Game Thinking zu seinem Thema gemacht. Dabei nutzt er seine 20-jährige Erfahrung in der Kreativwirtschaft – von der Arbeit in der Druckerei der Eltern, über die Lehre zum Werbekaufmann bei Grey Worldwide und die Arbeit als Regieassistent und Aufnahmeleiter für TV und Kino bis hin zur Ausbildung zum Producer für Computer- und Videospiele. Er war Mitgründer der Game-Thinking-Agentur Die Hobrechts und ist Geschäftsführer des E-Mental-Health-Entwicklers Circumradius. (Foto: privat)

Es ist klar, dass jeder Spieler in dieser Zeit viele Kompetenzen ausbildet. Daneben verändert sich aber auch vor allem eins: die Erwartungshaltung gegenüber sonstigen Medien. Denn Spiele sind perfekte Feedback-Maschinen, optimiert für die freiwillige und unbegrenzte Hingabe, ganz ohne Druck und Zwang. Leider kann man diese Qualitäten im Berufsleben jedoch oft nicht finden. Das Resultat ist eine Abkehr von alten Angeboten, die mit den durch Games gesetzten Standards an Motivation und Attraktivität nicht mithalten können.

 

Von Spiele(r)n lernen

Diese Erwartungshaltung ist aus Sicht der Industrie nicht unbedingt bequem. Seit gut 50 Jahren bildet sich daher sukzessive ein Berufsbild heraus, das genau in diese Lücke stößt: Professionelle Game Designer wissen, wie man intrinsisch motivierende Systeme entwirft und umsetzt. Ihre Art zu denken und zu arbeiten kann eine reiche Quelle für cross-sektorale Innovation für jede Organisation werden.

Vor über 10 Jahren haben Marketing-Agenturen diesen Trend erkannt und „Gamification“ getauft. Heute strömen Game Designer in alle Funktionsbereiche der Wirtschaft. Die Literatur spricht auch gern von angewandtem Game Design, bei dem Konzepte und Technologien von Games auf andere Bereiche und Anwendungen übertragen werden.

 

Game Design in der Medienwelt

Der Einsatzbereich des Game Designs ist – abstrakt ausgedrückt – überall dort, wo Menschen involviert sind. Das können Mitarbeiter in den Fachabteilungen, Führungskräfte in der Verwaltung, aber vor allem auch Kunden sein. Anwendungsgegenstände sind dem Konzept entsprechend Prozesse oder Produkte, bei denen die beteiligten Menschen ihr Verhalten verändern sollen. Typische angestrebte Verhaltensänderungen können beispielsweise sein

  • Seltener kündigen
  • Häufiger zurückkommen
  • Länger nutzen
  • Öfter kaufen.

Der Anwendungsbereich ist genauso breit, wie er klingt.

 

Wo und wie anfangen?

Marketer haben das Bild geprägt, dass Games primär Abzeichen, virtuelle Punkte und Level zu bieten haben. Für Game Designer sind diese Aspekte aber nur Mittel zum Zweck. Die Gestaltung beginnt für sie schon bei den Motiven, überhaupt mit dem Spielen anzufangen.

Nicole Lazarro hat in ihren „4 Keys to Fun“ eine häufig genutzte Beschreibung der Hauptmotive fürs Spielen vorgenommen:

  • Hard Fun: Manche spielen, um zu gewinnen. Der Triumph im Schach kann dabei ebenso motivieren wie die fehlerfreie Fingerfertigkeit in „Guitar Hero“. 
  • Easy Fun: Ob nun beim Stöbern im Plattenladen, beim Erkunden in „Minecraft“ oder beim Beobachten der „Sims“ – es geht immer um das Stillen der Neugier.
  • Serious Fun: Beim Warten auf den Drucker eine schnelle Runde „Solitaire“. Bevor die U-Bahn kommt, ein Level „Candy Crush“. Hier geht es um Entspannung und Wiederholung.
  • People Fun: Doppelkopf spielt man wegen des Kontakts zu den Mitspielern und nicht, um zu gewinnen. Gleiches gilt für alle großen Online-Rollenspiele.

Die populärsten Spiele kombinieren mehr als nur ein Motiv und sprechen dadurch viele Menschen auf einmal an. „World of Warcraft” wurde zum Beispiel deshalb so populär, weil in diesem Spiel jeder seiner Motivation nachgehen konnte, ohne einem anderen den Spaß zu nehmen.

 

Übersetzung benötigt

Um diese Segmentierung besser auf andere Kontexte übertragen zu können, hat Amy Jo Kim die Tätigkeiten als „Social Actions“ abstrahiert.

Ein entscheidendes Differenzierungskriterium: Zum Entdecken und Gestalten brauche ich keine anderen Menschen, sondern nur Inhalte. Für Wettkampf und Kollaboration hingegen brauche ich den Kontakt zu anderen.

Amy Jo Kim macht auch deutlich, dass Game Designer ihren Blick immer auf Aktivitäten fokussieren, die verbessert oder neu erfunden werden könnten. Ein fundamental anderer Blickwinkel als der in Verlagen übliche, der erst nach dem Content schaut und die Aktivität des Lesens meist nicht hinterfragt.

 

Was das für Bücher bedeutet

Legt man Amy Jo Kims Schablone an, dann erscheinen Bücher in erster Linie ganz links oben:

  • Betrachten (beim Lesen, Anschauen oder Durcharbeiten)
  • Sammeln (im Bücheregal).

Alle anderen Aktionen und Quadranten könnten aus der Sicht eines Game Designers jetzt als Inspiration dienen für kleine Verbesserungen oder ganz neue Ideen. Das Ergebnis dieser Überlegungen kann digital sein wie ein Videospiel, muss es aber nicht. Vielleicht war dies nur die Anregung für eine ganz analoge Idee, die einen neuen Nutzen ermöglicht.

Grau ist alle Theorie, weshalb ein paar Beispiele folgen. Dabei wird deutlich: Das Ergebnis ist nur selten ein Spiel!

 

Beispiel 1: Bücher anders entdecken

Bevor ein Kunde sich für ein Buch entscheidet, liest er den Klappentext. Über den Scan der ISBN-Nummer könnte er aber auch einen Hörtrailer von AudiotexTour abspielen. In diesen zweiminütigen Hörspielen kommen die Protagonisten selbst zu Wort und begeistern emotional für das Buch: Mozart erzählt über die Besonderheiten seiner neuen Biografie. Ein Kommissar und sein Kollege berichten von alten Fällen, um dann auf den aktuellen zu sprechen zu kommen. Ein Physiker veranschaulicht mit einem verständlichen Beispiel, warum sein neues Buch auch für Laien ein Genuss ist. Die Bestsellerliste kann ich derart emotionalisiert heute nicht hören. Warum eigentlich noch nicht?

 

Beispiel 2: Bücher anders lizenzieren

Systematisierte Motive: Weshalb spielen Menschen Computerspiele? Amy Jo Kim hat die Hauptmotive fürs Spielen entlang der Achsen Content–Menschen und Agieren–Interagieren abstrahiert, damit sie sich besser auf andere Produkte und Anwendungen übertragen lassen. (Amy Jo Kim; Übersetzung und grafische Umsetzung: Christoph Brosius)

Aktuell werden rechtlich nur die Werke der Rechteinhaber als Beitrag zu ihrer „Story World“ gezählt. So sind die Harry-Potter-Werke ca. 25 Mrd Dollar wert, während die über 1 Mio Werke von Fans, die in der Potter-Welt spielen, kaufmännisch und rechtlich wertlos sind. Equity Authorship von Marsha Courneya ist ein neues Lizenzmodell, bei dem Eigentum an der Story-Welt in Form von Tokens anteilig durch die eigenen Werke verdient werden kann. Autoren können in diesem Rahmen ein neues Werk veröffentlichen und dazu einladen, Fan-Fiction zu produzieren. Nach klaren Regeln werden Werke von Fans dann ein Teil dieser wachsenden „Story World“. Noch hat kein Verlag den Mut gehabt, sein Lizenzmodell derart grundlegend zu überdenken. Warum eigentlich noch nicht?

 

Beispiel 3: Bücher anders vorlesen

Jüngere Kinder lieben Bücher, vor allem dann, wenn man sie ihnen vorliest. Ein Game Thinker würde das „Onboarding“ oder „Tutorial“ nennen. In Deutschland gibt es digitale Kinderbücher auf dem iPad, aber noch keine App von einem Verlag, der das Vorlesen aus der Ferne so richtig ermöglicht. Caribu hat diese Lücke geschlossen. Eltern und Großeltern können in dieser App nicht nur ein digitales Buch gemeinsam mit den Kindern lesen, sondern sich dabei auch per Videochat verbunden sehen. Bisher gibt es keine deutschen Inhalte in der App. Warum eigentlich noch nicht?

 

Beispiel 4: Bücher anders bewerten

Apps sind zu einem Symbol für Innovation und Start-up-Kultur geworden. Vielfach gilt: Wer etwas Neues unternehmen will, der braucht eine App. So bewerten es auch viele Verlage. Dabei sind klassische Bücher die Rettung vieler moderner Start-ups. So hat zum Beispiel die Wuppertaler Freiluftbande beschlossen, die klassische Schnitzeljagd zur Vermittlung von Grundschulwissen zu nutzen. Beim Rätseln an der frischen Luft zu rechnen, zu schreiben und vor allem zu lesen – besser geht es nicht. Entgegen dem Start-up-Reflex haben sie sich bewusst gegen eine App und für ein analoges Buch entschieden. Ein Papier-Prototyp ist schneller zu testen als Software und ein Kind kann es auch mal versehentlich fallen lassen, ohne einen Haftpflichtschaden zu produzieren. Für ein Buch muss man auch keine Updates programmieren, nur weil ein neues Handymodell erschienen ist. Vielleicht bricht allein dieser Gedanke schon zu sehr mit dem gelernten Denken, aber wieso habe ich habe noch auf keinem Event für Start-ups einen Stand der Buchbranche gesehen, der für Papier-Prototypen und für Bücher als Alternative zu Apps wirbt? Warum eigentlich noch nicht?

 

Nachfrage wird Angebot übersteigen

Fest steht: Die Erwartungen der Menschen verändern sich. Es wird frische Ideen brauchen, um diese neuen Erwartungen erfüllen zu können. Bezieht man Game Designer in die Verlagswelt mit ein, dann werden durch deren neue Perspektiven auch neue Antworten entstehen können.

Seit die Games Academy als erste deutsche Games-Schule im Jahr 2000 eröffnet wurde, ist viel passiert. Es gibt inzwischen allein im deutschsprachigen Raum ca. 180 Studiengänge, die Spieleentwicklerinnen und -entwickler ausbilden. Noch gehen viele von ihnen in die Spieleindustrie.

Wie viele Game Designer werden Sie im nächsten Jahr einstellen?

 

Christoph Brosius 

buchreport.spezial Management & Produktion

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im buchreport.spezial Management & Produktion.

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