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Joachim Leser: Im Digital der Tränen

Joachim Leser: Im Digital der Tränen

Niemand will sie, niemand braucht sie, niemand mag sie: E-Books. Wie ein digitaler saurer Regen haben sie sich übers Sor­timent ergossen und drohen ganze Han­delslandstriche zu veröden. Diese menschengemachte Naturkatastrophe kommt fortschrittsbemäntelt daher und stopft seine Bits und Bytes in jede Ritze der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Die Lyrikabteilung ist verschwunden, die Hotline ist da. An Stelle der leinengebundenen Schmuckausgabe der „Ilias“ glitzert nun das Bookeen Cybook Odyssey. Wir hadern mit dem Schicksal, das unserer Generation diesen Gang durch das Digital der Tränen abverlangt, sahen wir uns doch für würdigere Aufgaben gerüstet. Mit einem Zauberwort stemmen wir uns dieser feindlichen Übernahme entgegen, das wir etwas trotzig inmitten des Kabelsalats murmeln: „Haptisch.“ Gesundheit!

Buchhändler verliert Herrschaft

Der entscheidende Umbruch, den der Buchhandel heute erlebt, ist vermutlich nicht einmal der Wechsel des Aggregatzustandes seiner Produkte – von Print zu Digital. Vielmehr verliert er zunehmend die Herrschaft und den Überblick über sein Angebot. Mancher mag dies als eine Art zweiter Entfremdung empfinden: Während der Industrialisierung wurde der Arbeiter als Gestalter des Produktionsprozesses entmachtet; der Händler verliert nun im Rahmen der Digitalisierung die Macht über sein Angebot. Mit den Werken, die über den virtuellen Ladentisch gehen, kommt er meist nicht mehr in Berührung. Das Empfinden einer Entfremdung mag sich noch verstärken, wenn ihm nach Lektüre und Unterzeichnung der fingerdicken Verträge klar wurde, dass er keine E-Books verkauft, sondern Lizenzen vermittelt.

Zwei Möglichkeiten für E-Shops

Für die Ausgestaltung eines E-Book-Shops hat der Sortimenter heutzutage zwei Möglichkeiten: Er kann die vorgefertigten Kataloge der digitalen Auslieferungen in seinen Online-Shop übernehmen. Sein Sortiment wird über Nacht somit um mehrere Hunderttausend E-Books erweitert. Er offeriert und verkauft diese E-Books mit den Werkzeugen, mit denen er auch bislang Printprodukte in seinem Online-Shop verkauft hat. Die Auswahl, die im stationären Handel dem Kunden als Orientierung diente, wird im Online-Handel durch die Suchfunktion ersetzt. Doch da die Algorithmen, die die Suchfunktionen bestimmen, durchweg quantitative Größen verarbeiten, ist eine qualitätsgeleitete Führung der Kundschaft durch den Online-Shop bislang nur sehr schwer möglich.

Eine zweite Möglichkeit besteht in der individuellen Gestaltung eines elektronischen Angebots für die Kundschaft. Für die Schulthess Buchhandlungen haben wir dies im Rahmen einer Applikation für das iPad umzusetzen versucht. Diese ist für Studierende der Rechtswissenschaften in der Schweiz konzipiert. Der Vorteil dieser Lösung besteht darin, dass das Angebot selbstständig mit Titeln bestückt werden kann, die der Kunde in den gängigen E-Book-Katalogen nicht vorfindet.

Allerdings hat diese Lösung auch technische und strukturelle Grenzen: Die Titelanzahl, die im Shop untergebracht werden kann, ist auf einige Hundert Werke begrenzt. Auch ist ein solches Modell nur mit einer begrenzten Anzahl von Verlagen umsetzbar, da der Shop nicht mit einer digitalen Auslieferung verknüpft ist, die für die Abrechnung mit den Lieferanten zuständig sein könnte. Dies erfolgt in – auch für Verlage – aufwendiger Handarbeit. Es deutet sich an, dass der Handel mit elektronischen Produkten von dem Sortimenter einen Paradigmenwechsel verlangt. Nicht die Breite des Angebots wird zukünftig die Attraktivität eines E-Bookshops bestimmen, sondern eine plausible Auswahl, eine sinnvolle Suchfunktion, überschaubare und vertiefende Informationen zu den Titeln und ausgewählte Titelverknüpfungen.

Kundenorientierter Shop fehlt

Die Strategie des Verbandes zielte bislang in die Richtung, jedem stationären Buchhändler die Integration von E-Books in den Online-Auftritt zu ermöglichen. 4000 stationäre Buchhandlungen sollten 4000 Online-Shops inklusive E-Book-Verkauf führen. Das Ange- bot wird derart standardisiert und konfektioniert, dass auch die Integration des E-Book-Kataloges in den Online-Auftritt eines Lebensmittel-Discounters problemlos möglich ist. Was völlig vernachlässigt wurde, ist die Schaffung von Grundlagen für einen kundenorientierten E-Book-Verkauf. Es braucht womöglich keine 4000 Online-Shops, aber 100 bis 200 spezialisierte E-Book-Shops, von denen jeder ein klares Profil herausbilden kann und in denen die Kernwarengruppen des jeweiligen Angebotes intensiv gepflegt werden. Diese könnten tatsächlich mal ein spürbares Gegengewicht zur Marktmacht der Global Player darstellen.

Was braucht ein E-Book-Handel, in dem ein Sortimenter seinen Kunden ein qualitätsorientiertes Angebot bieten mag? Ich sehe vier Aspekte:

  • Individuelle Katalogpflege: In der Regel sind die Katalogdaten, mit denen E-Books ausgestattet sind, kaum ausreichend, um eine qualitätsorientierte Nutzerführung durch den Shop zu bewerkstelligen. Die Katalogdaten der einzelnen Titel müssen in der Regel mit Verschlagwortung, Inhaltsverzeichnissen, Pressestimmen, Leseproben und vielem mehr angereichert werden. Auch droht im E-Book-Handel die Gefahr, dass zunehmend veraltete Titel das Angebot verstopfen. Durch die Ergänzung des Angebotes mit Titeln, die nicht in den standardisierten Katalogen untergebracht sind, kann künftig eine Profilierungsmöglichkeit des spezialisierten E-Book-Handels sein.
  • Neue Suchfunktionen: Die Suchfunktionen, die bislang in elektronischen Plattformen zur Verfügung gestellt werden, basieren auf Algorithmen. Die Suchergebnisse können wahlweise nach Verkaufszahlen, Lagermengen, Erscheinungsdatum und anderen Größen sortiert werden. Was der Nutzer erhält, sind Listen, die aus Informationen entstanden sind. Buchhändlerisches Wissen wird kaum abgebildet. Mitentscheidend für den Erfolg sortimentergeführter E-Book-Plattformen ist, ob der Anspruch, ein Sortiment mit Wissen zu gestalten, auch auf das elektronische Angebot transferiert wird.
  • Flatrate-Angebote: Es gibt inzwischen schon einige Flatrate-Angebote, die sich auf dem Markt etabliert und ihre Kundschaft gefunden haben. Ob Skoobe, das sich ans breite Publikum wendet, oder Jurion, das für den Anwalt via Flatrate Zugriff auf relevante Werke zu seinem Arbeitsschwerpunkt an­bietet, das Modell hat sich rasch durchgesetzt. Es ist die Frage, ob sich die Flatrate-Angebote derart diversifizieren können, dass sie sich auch ins Portfolio des E-Book-Händlers begeben. Aber warum sollte nicht der E-Book-Händler mit Verlagen kooperieren und entsprechende Angebote seinen Kunden offerieren können?
  • Plattform statt E-Book-Handel: Wir stehen noch am Anfang des elektronischen Lesens. Es zeigt sich aber, dass sich hier unterschiedliche Arten des Umgangs mit Texten etablieren werden. Ein Germanist wird völlig andere Ansprüche an elekronische Texte haben als ein Physiker, für Krimifans wird eine andere Peripherie um die Texte entstehen als für den Kochbuchfreund oder den Kunstbuchliebhaber. Das E-Book ist – und da unterscheidet es sich wesentlich von seinem Printgenossen – nicht allein, es steht bestenfalls im Zentrum eines Leseprozesses, in dem es mit unterschiedlichsten Subtexten und Bezügen verknüpft sein kann. Im elektronischen Lesen werden sich stärker unterschiedliche Lese- und Nutzergewohnheiten herausbilden. Der E-Book-Handel muss diese Peripherie, die für seine Nutzergruppen relevant ist, mitdenken und mitgestalten.

Wandel ist gestaltbar

Wir stehen noch am Anfang eines digitalen Wandels, der von einem Großteil der Akteure der Buchbranche in erster Linie als Bedrohung des Bestehenden empfunden wird. Es fehlt weitgehend die Überzeugung, dass dieser Wandel gestaltbar ist und dass der Buchhandel mit seinen traditionellen Strukturen ein wesentlicher Akteur bei der Ausgestaltung des Angebotes mit elektronischen Titeln sein kann, denn E-Books können großartig, hilfreich und lustvoll verspielt, überraschend und horizont­erweiternd sein.

Joachim Leser, Jahrgang 1966, leitete jeweils fünf Jahre die Pressestelle beim Am­mann Verlag und bei Kein & Aber. Seit 2009 ist er bei Schulthess Juristische Me­dien in Zürich als Portalmanager und Online-Buchhändler tätig.

Der Beitrag von Joachim Leser ist erschienen im buchreport.praxis „E-Books im Handel“. Das über 50 Seiten starke Heft mit ausführlichen Analysen zum E-Book-Markt in Deutschland und Praxistipps für Buchhändler liegt dem buchreport.nagazin 5/2013 bei und kann hier separat bestellt werden.

Kommentare

11 Kommentare zu "Joachim Leser: Im Digital der Tränen"

  1. warum kann ich dieses Heft „E-Books im Handel“ nicht als eBook kaufen?

  2. Helmer Pardun | 17. Mai 2013 um 10:50 | Antworten

    Kreativität statt Content – Die kundenorientierte und ergebnisgeleitet Einbindung von E-Books und alles drumherum im Buchhandel, besser in jedem einzelnen Buchhandelsladen, ist keine Frage der jeweiligen Zustandsform von Content. Die Einbindung von E-Books ist, meiner Einschätzung nach, zum Einen abhängig von der Situation, der (potentiellen) Kundschaft und dem Umfeld der jeweiligen Buchhandlung. Zum Zweiten aber ist es ist eine unternehmerische Frage, eine Frage von Innovationskraft, Risikobereitschaft, Geschäftsmodell – also auch von Kreativität jeweils sofern vorhanden und ausgeprägt (1). Und da mangelt es in vielen inhabergeführten Fällen sehr heftig. Selbst zu sehen an vielen beobachtbaren, lokalen Stellen, ebenso belegt durch wissenschaftlich, evidenzbasierte Quellen (2) und vor allem auch konstatierbar hinsichtlich der Unkenntnis der Ladeninhaber bezüglich des eigenen Berufsbildes und beruflichenm Wissens, ausgewiesen z. B. durch die (Nicht-) Kenntnisse der Inhalte der Ausbilsungsverordnung (3). Wenn man hier nur selbst einige Dinge für das eigene Geschäft besser kennen und umsetzen würde, was der Auszubildende zum Abschluß seiner „Lehrjahre“ vermittelt bekommen haben und können sollte, dann hätte man einen Schritt näher zur unternehmerischen Geschäftsführung getan. Dann wäre man auch dem E-Book-Hype mit all seinen derzeitigen Hypothesen und Versuchs- und Irrtums-Hängepartien, die die gegenwärtige Lage bei bei Verlagen, Buchhändlern, Lesern, Beratern und ( auch wissenschaftlichen) Berichterstattern insbesamt auszeichnen, nicht mehr ganz so abhold. Man sollte bei der E-Book-Dskussion aus meiner Sicht udn in übertragenem Sinne sauber trennen zwischen C & M & S. Das System von Buchwesen und -wirtschaft und die Struktur der Abnehmerschaft ist zumindest derzeit relativ fest vorgegeben, am Managment, der zielgruppengerechten Verwendung, Verbindung und Verwaltung ihrer Elemente kann man arbeiten. Der Content als Aggregationszustand von Text- oder Multimediainhalten spielt dabei als Waren- oder Serviceinheit zunächst keine hervorstechende Rolle (vgl. auch Book/Non-Book-Gestaltung), auch wenn Propaganda behaftet immer entweder als Promotion oder Phantasie besonders hervorgekehrt. Ganz generell empfehle ich, sich nicht immer nur paradigmatisch die Enwicklung im Musiksektor anzusehen. Näher kommt dem jetzigen Status bei E-Publishing und E-Services die Diskuasion um den Einfluß von Wikis und Weblogs seit etwa 1996 bis heute auf die Verlagslandschaft, Zeitschriften, Pressegrosso, Journalisms und Publishing und die immer noch laufende, aber immer mehr versachlichte Diskussion um die Berecechtigung und Wirkung von Paralleluniversen (4).
    (1) Informationen: http://www.berlinerbuchhandel.de/de/157788)
    (2) http://www.antiquariatszeitung.de/buchwelt/buch-wesen-welt/55-probleme-der-buchwirtschaft-hausgemacht
    (3) http://www.boersenverein.de/de/portal/Downloads/158384?spage=spage&lv=0&rubrik1=155721&rubrik2=169158#bv_download_ebene_3
    (4) http://blog.grimme-online-award.de/2013/05/blogs-und-journalistische-medienangebote-blogs-als-paralleluniversum/

  3. Jürgen Schulze | 11. Mai 2013 um 11:14 | Antworten

    Jämmerliches Geheule.
    Wer über E-Books herzieht, der kauft auch Bücher nach dem Cover. Ich dachte immer, der Inhalt zählt.
    Holzbücher sind ekelhaft

  4. Chräcker Heller | 8. Mai 2013 um 21:54 | Antworten

    Irgendwie scheint Amazon das Ganze ohne die vielen Tips und Zukunftsprognosen dieser Branchenkommentatoren hin bekommen zu haben. Zum Glück hat denen keiner gesagt, daß das alles ganz ganz schwer ist. Und mir keiner, daß ein Werk nur in der leinengebundenen Schmuckausgabe was wert ist, und nicht in meinem ledergebundenen Reader.

  5. Statt sich als Opfer der technischen Entwicklung zu sehen und vor der großen Klagemauer zu beten, sollte der Buchhändler die große Chance des Augenblicks nutzen und sich an die Spitze der E-Bewegung setzen. Dort spielt die Musik.

  6. Die Überlegungen sind OK – allerdings einige Jahre zu spät. Der Buchhandel steht jetzt vor dem gleichen Problem, wie ehemals die Musikindustrie: der Nutzer ist längst weiter, „diktiert“ die Bedingungen und ist nicht bereit, Rückschritte hinzunehmen. Mit dem momentanen Gebaren machen sich die Verleger sicher keine Freunde unter den Lesern. Warum ist kein Verlag in der Lage, mit interessanten neuen Ideen voranzuschreiten (Mehrsprachigkeit, …)? Warum gibt es keine vernünftigen Ideen für den qualifizierten Buchhandel (NFC, …)? Und last but not least – das unvermeidliche Thema – Preisgestaltung bei Ebooks… Wenn das Medium offensichtlich einen zu vernachlässigenden Wert hat – warum gilt dann die erworbene „Lizenz“ zum Lesen eines Werks nicht medienunabhängig?

  7. Hey, hey, was für eine tolle Idee: auf zu Aldi und Lidl – da geht noch was für E-Books!

  8. Auf den Ebook-Reader haben unzählige Bücher Platz und man kann ihn überall mitnehmen. Oder? Also z. B. auch in die Sauna? Theoretisch ja, aber ein Taschenbuch ziehe ich in diesem Fall vor, wie in vielen anderen Fällen auch. Ich möchte auf beides nicht verzichten, weder auf meinen Ebook-Reader noch auf herkömmliche Bücher. Ich denke, so denken viele 🙂 Darum denke ich, dass beides auf dem Markt bleibt.

  9. Dem E-Book gehört ganz klart die Zukunft! Wer das nicht kapiert sollte sich schon mal Gedanken über einen Berufswechsel machen. Insbesondere Vielleser werden es nicht mehr hinnehmen, teure Wohnfläche unnötig mit Büchern zu okkupieren!

    Der E-Bookladen, der die schnellste Abwicklung von Suche, Kauf und Bezahlung anbietet wird überleben. Wenn dagegen wie bei meinem Händler vor ort nichts klappt, veraltete ungewartete Seiten einen erwarten wendet man sich mit Graus von Dannen hin zu Buch.de & Co.

  10. Bullshit. Naja, wieder einer der die Klippe leugnet in die er hineinrennt.

  11. Sehr schöner Artikel. Gerade in Zeiten eines sich stets vergrößerndes Titelangebots wird die Prä-Selektion für die eigene Kundschaft immer wichtiger. Nicht umsonst gewinnen Social-Reading-Plattformen wie goodreads an Bedeutung, hier übernimmt die Community die Rolle des Buchhändlers. So wird Social Reading in Zukunft – nein, eigentlich ist jetzt schon soweit – eine wichtige Informations- und Inspirationsquelle zur zielgruppenorientierten Sortimentsgestaltung für Buchhändler. Egal, ob Papier oder E-Book.

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