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Jo Lendle: Im Countdown der Akkuprozente – meine Erfahrungen mit „Morgen mehr“

Jo Lendle: Im Countdown der Akkuprozente – meine Erfahrungen mit „Morgen mehr“

Wenn jemand aus dem Team im vergangenen Vierteljahr zu Abendveranstaltungen eingeladen wurde, war die Antwort in der Regel „Heute weniger“. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass Tilman Rammstedt sein Tageskapitel bis mittags pfeifend im Kasten hat, dann wollte ich es irgendwann am Nachmittag rasch mit ihm durchsprechen, so dass die Technik bis zum Abend alles eingerichtet hätte. Wir mussten lernen, dass „ursprünglich“ und „vorgesehen“ keine Begriffe sind, die der Wirklichkeit dieses Unternehmens gerecht wurden.

Was sind schon Pläne, wenn Morgen mehr entsteht? Wenn ungeborene Erzähler auf selbsternannte Unterweltkönige treffen, wenn Hanau zur Hauptstadt der Liebe wird, wenn es einen irgendwann nicht mal mehr verwundert, dass die Figur der Mutter sich ein ganzes Kapitel lang mit ihrer Traurigkeit unterhält, einfach weil man beim Lesen selber viel zu traurig wurde. Wenn im Laufe eines Tages aus dem Kreis der Mitlesenden so viele Vorschläge für den Inhalt des sagenumwobenen Kofferraumkoffers eintreffen, dass der Autor beschließt, es vorerst bei einem Platzhalter zu belassen – der bald schon ein Eigenleben entwickelt. In Sachen Schaltsekunde, Februar oder Blitzzement gibt es so viel zu recherchieren, dass einem die Wikipedia-Server leidtun konnten. Es wurde also, um das Mindeste zu sagen, öfter mal ein wenig später.

Ein Vierteljahr Morgen mehr, das waren auch: Unzählige Telefonate mit dem Autor, an guten Tagen vor Ideen polternd, an gewöhnlichen Tagen mit so langen Phasen vollkommener Leere, dass man ganze Schweigeklöster daraus hätte bauen können. Das war Grübeln, Seufzen, Kichern – und immer wieder Verblüffung, wenn TR auf der Flucht vor sämtlichen hinter ihm herjagenden Deadlines wieder einmal überraschendste Haken schlug. GoogleDocs sind eine grandiose Erfindung fürs Fernlektorat: Oben kann man in Grün schon mal kommentieren, während der andere unten noch rasch die letzten Absätze schreibt. Falls wir denn gerade irgendwo waren, wo die Verbindung halbwegs hielt. Jeweils zur Monatsmitte war das Datenvolumen des Monats aufgebraucht.

Ich habe nur einen Bruchteil der Zeit in diesem Morgenmehr verbracht, die Tilman Rammstedt beim Schreiben hat hineinfließen lassen. Nur im Traum kann ich mir ausmalen, wie es gewesen sein muss, ein Rund-um-die-Uhr-Autor zu sein – und es wären keine schönen Träume. Als Lektor jedenfalls fand man sich während dieser Zeit in ungewohnt bizarren Instantbüros wieder. Die Kapitel trafen ein und wollten bearbeitet werden, wo immer ich gerade war, beim Inder oder in Indien. Während eines Konzerts auf Schloss Elmau ebenso wie auf einem zugigen Provinzparkplatz im Countdown der Akkuprozente. Ich redigierte morgens um vier auf dem Flughafen von Dubai wie im überfüllten bayerischen Nahverkehrszug zur Rushhour. Auf der Herrentoilette eines Galadinners, während nebenan das Hummerparfait erkaltete. Im Fernbus. Im Kino. Im Schlaf. Auf einem Geburtstagsfest (dem eigenen). Zwischen dösenden Flüchtlingen im Wartesaal eines Bahnhofs. Vor drei Wochen, an dem kleinen, elenden Raucherteich der Leipziger Buchmesse stellten wir inmitten von Cosplay-Gnomen und enthaupteten Monsterkatzen zum ersten Mal Überlegungen zu einem noch gänzlich unvorstellbaren Ende an. Gestern Abend vergaß ich beim Aufbruch zu einer Autorenlesung meinen Laptop im Verlag, ausgerechnet vor dem letzten Kapitel. Es war dann nicht schlimm, weil TR nach Ende der Veranstaltung ohnehin noch nicht fertig war und nach dem anschließenden Essen immer noch nicht. Um Mitternacht verwarfen wir telefonisch die Hälfte und er begann wieder von vorn. Ich fuhr heim, telefonierend, irgendwann schliefen die ersten Mitglieder des Teams ein, der Autor schrieb weiter, jeweils zur vollen Stunde klingelte mein Wecker, aber er brauchte jedes Mal noch ein wenig, bis es am Morgen dann fertig war. Nun ist das Ende da und man reibt sich die Augen.

Es war, zusammengefasst, wie ein Besuch auf dem Jahrmarkt als Kind: Bunt, panisch, unvorstellbar lecker. Und auch dort murmelte man, wenn man am Ende nach Zuckerwatte und Senf riechend ins Bett fiel, einen gewonnenen Stoffgorilla im Arm und schwindlig von all den Achterbahnen: „War herrlich, aber jetzt erst mal schlafen.“

Jo Lendle Foto: (Robert Haas) ist Verleger und Lektor des Carl Hanser Verlags. Sein Blogbeitrag erschien auf der Website morgen-mehr.de

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