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Joachim Leser: Die „Zeit“ wird 65 – ein Rentenbescheid

Joachim Leser: Die „Zeit“ wird 65 – ein Rentenbescheid

Die „Zeit“ erinnert in ihrer heutigen Verfassung mehr an eine publizistische Butterfahrt als an eine „meinungsführende Wochenzeitung“. Sie ist zum Jubiläum  ganz nah am Altpapier.

Ich hatte mich am Bahnhof Zürich für DIE ZEIT entschieden; ich wunderte mich zwar über das Titelthema („Die neue Lust an der Philosophie“), ließ mir dann aber die 7 Franken und 10 Rappen entlocken. Auch war ich neugierig auf die Seiten 31 und 32, die auf der Titelseite angekündigt wurden: das „Studium generale“ der neuen „ZEIT Akademie“ startet mit „zwei Vorlesungen: Philosophie und Ökonomie“.

Auf S. 31 und 32 fand ich keine Vorlesungen. Dort steht ein Artikel über Ghana. Darunter die Eigenanzeige der ZEIT: „Die neue Akademie der ZEIT. Endlich lernen, was sie schon immer lernen wollten.“ Vier DVDs mit 14 Vorlesungen mit Prof. Dr. Nida Rümelin zum Thema „Philosophie“ und sechs DVDs mit 24 Vorlesungen mit Prof. Dr. Pohl zur „Ökonomie“. Für je 129 Euro. Außerdem lassen sich Wochenendseminare mit den Professoren buchen (199 Euro). Frühbucherrabatt bis 28. Februar.

Dem Hinweis auf der Titelseite war beim besten Willen nicht zu entnehmen, dass man auf eine Eigenanzeige der ZEIT geführt wird, die für sensationell überteuerte DVDs werben will. Und was hat „die neue Lust an Philosophie“ – wir erinnern uns: der Aufmacher der Ausgabe – mit der neuen DVD-Edition zu tun? Im Feuilleton weitere drei Seiten zum Thema „Philosophie“. Wohin nur mit dieser Lust an der Philosophie? Ist es tatsächlich Service am Leser, dass sie derart prompt befriedigt werden kann? Was passiert mit den Texten, wenn Philosophie und Ökonomie so dicht beieinander liegen? Minütlich begann mein Misstrauen zu wachsen. Was hat der Bericht über das RTL-Dschungelcamp mit ZEIT-Familienreisen zu tun („Costa Rica – Grünes Wunderland im Regenwald“)? Was hat das Interview mit Stefan Mappus mit der Anzeige des SWR zu tun, der einen neuen Intendanten sucht? Womöglich nichts. Trotzdem war diese Zeitung für mich auf einen Schlag unlesbar geworden. Ich begann die Eigenanzeigen der ZEIT zu zählen.

Insgesamt fand ich auf den 82 Seiten 28 Eigenanzeigen, die für ZEIT-Reisen, ZEIT-Akademie, DIE ZEIT – Parship, ZEIT-Forum Kultur (Giovanni di Lorenzo und Axel Hacke – „Wofür stehst Du?“), ZEIT-Edition „Historische Kriminalromane“, ZEIT-Campus, ZEIT-Shop (Recycelte Schwimmflügel) etc. warben. Außerdem fand sich als Beilage eine Umfrage: Die Chefredaktion der ZEIT bittet um Ihre Meinung. Dankeschön. Wunschgeschenk. Lastschriftverfahren. 38% Ersparnis, ZEIT-Herrenuhr (Hab ich bereits). Die ausgefüllte Umfrage ist zu adressieren an den Aboservice. Nicht an die Chefredaktion.
Drei Stellenanzeigen des ZEIT-Verlages sind ebenfalls in der aktuellen Ausgabe. Gesucht werden: ein Mediengestalter für Digital- und Printmedien (m/w). Ein stellvertretender Veranstaltungsleiter (m/w). Ein Personalreferent (m/w) („Sie beraten und unterstützen die Führungskräfte bei der Umsetzung von personalrelevanten Themen und der HR-Strategie“). Redakteure hat DIE ZEIT offenbar genug.

Eine Zeitung, die bei  der Auswahl ihrer Themen den Absatz hauseigener Produkte berücksichtigt, verliert ihre demokratische Funktionstüchtigkeit. DIE ZEIT erinnert in ihrer heutigen Verfassung (20. Januar 2011, Nr. 4, JG 66) mehr an eine publizistische Butterfahrt als an eine „meinungsführende Wochenzeitung“. DIE ZEIT ist 65 Jahre alt geworden und ganz nah am Altpapier.

Joachim Leser, Konstanz

Kommentare

1 Kommentar zu "Joachim Leser: Die „Zeit“ wird 65 – ein Rentenbescheid"

  1. Victor Pesczynski | 27. Januar 2011 um 6:47 | Antworten

    Nicht doch! Auch für die ZEIT gilt das neue Rentenrecht: Erst ab 67 in den verdienten(?) Ruhestand. Also gib dem „Altpapier“ noch eine zweijährige Chance.

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