buchreport

Ab in den Winterschlaf

So sieht das Logo von Europeana aus –
ein Schelm, wer darin eine Anspielung
ans Google-„G“ erkennt?

Jean-Noel Jeanneney erlebt in diesen Tagen ein Wechselbad der Gefühle. Fast vier Jahre, nachdem der damals oberste Bibliothekar Frankreichs in einem Tageszeitungsartikel mit scharfen Worten die Digitalisierungsoffensive von Google kritisiert und dazu angeregt hatte, die Digitalisierung auf europäischer Ebene, auf Basis bestehender Projekte wie dem Gallica-Projekt seiner Französischen Nationalbibliothek, zu beschleunigen, konnte der Franzose vergangene Woche triumphieren: Am Donnerstag ging die gemeinsame Online-Bibliothek der Europäischen Union www.europeana.eu online, mit rund 3,5 Mio Dokumenten, Büchern, Gemälden, Filmen und Fotografien aus europäischen Sammlungen, vom „Croque Monsieur“-Rezept bis hin zu Dokumenten aus Mozarts Leben.

Überdies applaudierten die Googlianer auch noch offiziell zum Start der EU-Bibliothek. Doch wenige Stunden später war der Spaß erst einmal vorbei: Der riesige Ansturm der Nutzer aufs Portal – 20 Mio Klicks pro Stunde – legte die Server lahm; die Europeanaer hatten mit maximal 5 Mio Klicks pro Stunde gerechnet. Nach Angaben der EU-Kommission geht das neue Portal jetzt zwangsläufig erst einmal in Winterpause – erst Mitte Dezember soll es wieder freigeschaltet werden.

Zwar mahnte beispielsweise die „FAZ“ in einem Kommentar zur Geduld. „So ein Europa der Inhalte erinnert ans alte, verlorene Traum-Europa. Drei Wochen Funktionspanne sind dafür kein zu hoher Preis, zumal sich vor leeren Bildschirmen noch besser träumen lässt.“ Gleichwohl illustriert die Schwachbrüstigkeit der Europeana-Server die Schwäche des staatlichen EU-Projekts im Wettbewerb mit der privatwirtschaftlichen Google-Initiative:

  • Finanzen: Die EU-Kommission stellt gerade einmal 2 Mio Euro pro Jahr für den Unterhalt der Plattform zur Verfügung, die Kosten für die Digitalisierung sollen die Mitgliedsstaaten tragen – von denen allerdings viele bisher eher zurückhaltend auf Europeana reagiert haben; immerhin hat die Kommission angekündigt, die verschiedenen Digitalisierungs-Projekte der Bibliotheken in den kommenden zwei Jahren mit 120 Mio Euro aus dem EU-Forschungsrahmenprogramm und EU-Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation zu unterstützen.
  • Die magere Ausstattung des Projekts zeigt sich auch daran, dass für das Europeana-Portal, wie EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso höchstpersönlich zum Start des Portals bekannt gab, gerade einmal ein 14-köpfiges Team zuständig ist, die in einem kleinen Büro in der Königlichen Bibliothek der Niederlande in Den Haag sitzen.
  • Engagement: Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass über die Hälfte der Dokumente bei Europeana aus französischen Sammlungen stammen;  Deutschland steuert gerade mal 1% der digitalisierten Objekte bei. Kernproblem: Die Digitalisierungsoffensiven der Länder sind unterschiedlich weit fortgeschritten.
  • Komplexität: Anders als Google verzichtet Europeana auf einen zentralen Computer, auf dem alle digitalisierten Kulturschätze gespeichert werden; jedes kulturelle Werk verbleibt stattdessen bei der nationalen Einrichtung, die es digitalisiert hat und ist nur auf dem Server dieser Einrichtung abgelegt – ein ähnliches Modell war ursprünglich bei „Volltextsuche Online“ (VTO, heute: Libreka) im Gespräch, wurde aber wegen der hohen technischen Komplexität und Wartungsintensität abgelehnt. Risiken: Es müssen Technologien entwickelt werden, die gewährleisten, dass die von den einzelnen Ländern eingesetzten Digitalisierungs-Softwares kompatibel sind.
  • Zeitplan: Obwohl es seit den 1990ern große Digitalisierungsprojekte in europäischen Bibliotheken gibt, sind die Europäer spät dran – Europeana startet trotz des ursprünglichen Know-How-Vorsprungs fast vier Jahre nach Google. Laut EU-Kommission wurden erst 1% der Kulturgüter digitalisiert; 2010 sollen 10 Mio Kulturgüter bei Europeana online gezeigt werden.

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