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Die fragwürdige Enttarnung der Elena Ferrante

Die fragwürdige Enttarnung der Elena Ferrante

So sehen feuilletonistische Enthüllungsgeschichten aus: Der italienische Reporter Claudio Gatti will die wahre Identität der Bestsellerautorin Elena Ferrante gefunden haben. Doch das erhoffte Schulterklopfen der Branche bleibt aus, es hagelt Kritik.

Laut Recherchen von Gatti, die am Wochenende – ähnlich wie bei den früheren Wikileaks-Enhüllungen – zeitgleich in mehreren Medien, in der „FAS“, dem italienischen Wirtschaftsblatt „Il Sole24 Ore“, der amerikanischen „New York Times Review of Books“ und auf der französischen Investigativ-Website „Mediapart“ veröffentlicht wurden, steckt hinter Elena Ferrante die in Rom lebende Übersetzerin Anita Raja, Tochter einer deutschen Jüdin, die vor dem Holocaust nach Italien floh. Die Gattin des neapolitanischen Schriftstellers Domenico Starnone arbeitet für den italienischen Verlag Edizioni e/o, in dem Ferrantes Bücher erscheinen, und hat eine Vorliebe für Autorinnen aus Ostdeutschland, die sie übersetzt, darunter Christa Wolf.

Gatti verweist auf monatelange Recherchen, mit denen es gelungen sei, das „größte literarische Rätsel unserer Zeit“ („FAZ“) zu lösen. Dabei studierte der Journalist nicht nur öffentlich zugängliche Grundbücher – und fand heraus, dass die mit Ferrantes Bestsellern zu Reichtum gekommenen Raja und Starnone kürzlich eine 11-Zimmer-Wohnung in Rom kauften, die zwischen 1,1 und 1,8 Mio Euro wert sei. Auch in den Bilanzen des Verlags und selbst den Honorarabrechnungen von Raja will der Reporter Indizien für seine These gefunden haben.

In seinem Artikel begründet Gatti auch, warum er Rajas Identität gelüftet habe: Indem sie in einem Interview, ähnlich wie seinerzeit Italo Calvino, erklärt habe, gelegentlich in Bezug auf persönliche Fragen zu lügen, „scheint uns die Autorin ihr Recht aufgegeben zu haben, hinter ihren Büchern zu verschwinden. Vielmehr hat sie Kritiker und Journalisten geradezu herausgefordert, nach ihrer wahren Identität zu suchen.“

Die Autorin Zoe Beck zeigt sich wenig beeindruckt von Gattis Artikel. „Warum ist es nun so wichtig, ganz genau alles über die Autorin Elena Ferrante im echten Leben zu erfahren? Sind ihre Texte sonst nicht einzuordnen?“ Ferrantes Klarnamen gegen ihren mehrfach erklärten Willen auszugraben, sei „Sensationslust“ gewesen.

Die Berliner „taz“ schreibt: „Ein bisschen ist diese Entlarvung so, wie diese berüchtigten Fragen nach einer Autorenlesung sind: Haben Sie das, was Sie beschreiben, eigentlich alles selbst erlebt? Gespräche über Texte macht man so schnell kaputt.“ Richtig ärgerlich sei, dass Gatti bei seinen Recherchen sogar Honorarlisten und Grundbücher durchgesehen habe. „Als ob es um die Aufdeckung eines Berlusconi-Komplotts ginge, um WikiLeaks oder Mafiamachenschaften!“

Der „Tagesanzeiger“ zeigt sich genervt angesichts der Art, wie die „FAS“ die Entlarvung feiert und mit Superlativen garniert („Italiens berühmtestes Pseudonym“, die „interessante Person der Literatur“). Und kommentiert: „Als ob sie damit die Fackel der Aufklärung vor sich her tragen! Als ob es nicht wichtiger wäre zu verstehen, warum die Romane der Elena Ferrante so viele Menschen faszinieren.“

Auch die „Wiener Zeitung“ blickt skeptisch auf den Artikel. Warum sich die Autorin auch immer für die Anonymität entschieden habe, spiele keine Rolle. „Es regt jedenfalls die Fantasie der Leser über den Bücherrand hinweg an. Ein Effekt, der in Zeiten von Wikipedia längst rar geworden ist.“

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