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»Bitte ein Wettbewerb, keine Gießkanne!«

Das „Ladensterben“ und die „Verödung der Städte“ rücken wieder stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit. Der Einzelhandelsverband HDE fordert 500 Mio Euro für „Innenstadtfonds“, der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will Einzelhändler mit einer Digitalisierungsinitiative stärken. Fragen an Stadtplaner Wolfgang Christ.

Wolfgang Christ ist Architekt und Stadtplaner. Er arbeitet seit 1980 u.a. am Thema Stadtentwicklung und Handel. Von 1994 bis 2013 lehrte er an der Bauhaus-Universität Weimar. (Foto: buchreport)

Leitet ausgerechnet die Coronakrise die Rettung der Innenstädte ein?

Zumindest nehmen die Panikattacken zu, was ich verstehen kann. Und es ist gut, wenn das Thema oben auf die Agenda rückt, auch wenn mich die Ansätze nicht überzeugen: Weder die 500-Mio-Euro-Gießkanne, die der HDE fordert, noch die Idee von Minister Altmaier, dass ausgerechnet die Digitalisierung das Dilemma der Innenstädte und der Fußgängerzonen lösen soll.

Natürlich bin ich auch frustriert, weil wir seit 30 Jahren darüber reden, dass es eine problematische Erosion im Einzelhandel gibt. Aber erst seit die Coronakrise deutlich macht, dass es wirklich den Bach runtergeht, und seit Räumungsverkäufe auch in gut situierten Regionen das Bild bestimmen, wird aktionistisch versucht, zu retten, was so aber nicht zu erhalten ist.

Kann die Krise nicht Kräfte und Kreativität wecken?

Es ist ja nicht nur die bekannte Herausforderung der Digitalisierung. Die Coronakrise wird noch für einige Zeit dafür sorgen, dass das, wovon die Städte lange gelebt haben, massiv beeinträchtigt wird: das Bummeln, das entspannte Einkaufen, Kneipen- und Restaurantbesuche. Die wirtschaftlichen Folgen halten viele Händler und Wirte nicht bis zum Impfstoff durch.

»Es muss oft erst zur Katastrophe kommen, um das Bisherige infrage zu stellen.«

Ich will das durchaus positiv verstehen, wenn Politiker jetzt aufschrecken. Es muss oft erst zur Katastrophe kommen, damit der Leidensdruck so hoch wird, um umzusteuern und das Bisherige infrage zu stellen.

Welche Hoffnungszeichen gibt es?

Nicht allzu viel Mutmachendes. Es lohnt sich, nach England zu schauen, wo die Entwicklung schon früher eingesetzt hat. Man hat dort Stadtentwicklung auf die Regierungsagenda gesetzt, Banken, Einzelhändler, Immobilien-Eigentümer und Kommunen an einen Tisch geholt und versucht, den Einzelhandelsbestand anzupassen. Aber auch wenn es keine Erfolgsgeschichte war: Man kann daraus einiges lernen, zumal wir in mancher Hinsicht noch bessere Voraussetzungen haben.

Bekommen wir die Beteiligten an einen Tisch?

Ich bin skeptisch. Viele Immobilien-Eigentümer denken immer noch, dass sich doch wieder ein neuer Mieter finden wird. Und institutionelle Eigentümer scheuen eine Wertberichtigung, bei der ihre Immobilie 50% oder mehr an Buchwert verliert.

Der HDE fordert einen Fonds für einen Leerstandkataster und eine Konzeptentwicklung …

Das sind Banalitäten, der Alltag eines Bauamtes und einer Stadtentwicklung. Wenn eine Stadt so etwas nicht hat, tut sie mir leid. Der HDE müsste dem Ernst der Lage angemessen auftreten.

»Warum sollte die Handvoll spezialisierter Büros, die es bisher nicht geschafft haben, plötzlich innovativ werden?«

Was wäre angemessen?

Klar zu sagen: Wir verlieren die Mitte unserer Stadt. Das ist eine Entwicklung, die wir noch nie hatten, weil sich seit 1000 Jahren die Entwicklung rund um den Marktplatz abspielt. Da sind 500 Mio Euro keine Hilfe. Und vor allem bitte keine weiteren Einzelhandelsgutachten. Warum sollte die Handvoll spezialisierter Büros, die es bisher nicht geschafft haben, zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln, plötzlich innovativ werden? Wir brauchen mehr Spielraum: zum Beispiel eine Reform des Planungsrechts, Kommunen, die in die Lage versetzt werden, Immobilien zu kaufen, andere Mobilitätskonzepte. Es ist ein Paradigmenwechsel der Innenstadt gefragt, was die Sache allerdings sehr komplex und politisch schwierig macht.

»Dieses Momentum, selbst aktiv werden zu müssen, ist die einzige Chance, aus dem Sumpf herauszukommen.«

Aber irgendetwas muss passieren …

Ich würde das Prinzip eines Wettbewerbs verfolgen. Das heißt: gezielt Standorte und Projekte unterstützen, die von sich aus schon vieles richtig machen, die schon jetzt die Akteure zusammenbringen. Die jetzt nicht auf Digitalisierungsfolgen mit Digitalisierung reagieren, sondern darauf, was nicht standardisierbar ist, was individuell ist, was auf persönlichen Kontakt angewiesen ist, was also einer analogen Agenda folgt. Ich würde einen Wettbewerb zwischen den Kommunen anregen, die innovativen Kräfte wecken, und denen helfen, die mutig sind.

Dieses Momentum, selbst aktiv werden zu müssen, ist meines Erachtens die einzige Chance, aus dem Sumpf herauszukommen. Man müsste die entsprechenden Anreize setzen, was die finanzielle Unterstützung oder auch die Befreiung von Vorschriften angeht. Also staatliche Unterstützung, die nicht von außen übergestülpt wird, sondern vor Ort motiviert und entwickelt. Es müssen Kreativität und konkrete Projekte provoziert und gefördert werden. Das ist spannend, vermittelt Optimismus, ist anschaulich und inspirierend, weil da immer auch Bilder transportiert werden. Das wäre eine Perspektive.

Dies ist ein Beitrag aus dem buchreport.express 32/2020. Das Heft ist hier als E-Paper erhältlich und kann hier als gedrucktes Heft zu bestellen.

 

Weitere Beiträge von Wolfgang Christ in buchreport:

»Wer in die Stadt geht, will Urbanität erleben«

Markt und Mitte: Über die Zukunft der Stadtzentren

Die analoge Agenda für eine neue Handelskultur

Ungewisse Zukunft im digitalen Biedermeier

Kommentare

1 Kommentar zu "»Bitte ein Wettbewerb, keine Gießkanne!«"

  1. Ein Buchhändler | 13. August 2020 um 13:54 | Antworten

    Meiner Meinung nach wäre die Politik gefragt, nicht mit Geld, sondern mit fairen Regeln den Einzelhandel zu stärken. Rücksendungen kostenpflichtig, faire Steuern auch für Onlinehändler…

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