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Meisterin der Kurzstrecke

Am 10. Juli vor 78 Jahren wurde Alice Munro geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an die Kurzgeschichten der Autorin. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

Die Kurzgeschichten

Hauptgattung: Epik/Prosa, Untergattung: Kurzgeschichte, (engl.)


Mit ihren seit 1968 erschienenen Kurzgeschichtenbänden hat die Autorin ein thematisch eng umrissenes, aber in der psychologischen und stilistischen Subtilität bemerkenswertes Erzählwerk vorgelegt. Schon in ihrem Frühwerk zeichnen sich motivische Schwerpunkte und formale Vorlieben ab. Munros konzentrischer Weltausschnitt bleibt das Kleinstadtmilieu von Südwest-Ontario, auch wenn andere Schauplätze hinzutreten. Den hauptsächlichen Konfliktstoff bieten die Kommunikations- und Interaktionsprobleme zwischen Eltern und Kindern, Eheleuten, Liebespaaren, Geschwistern und Freundinnen, die sich den alters- und zeitbedingten Erfahrungen der Autorin entsprechend verlagern.

So kommt es bei der vielfachen Behandlung des Mutter-Tochter-Verhältnisses zu einer Verdrängung der Sicht der Tochter durch die der Mutter oder zu einer Überlagerung beider Sehweisen; und bei der Darstellung der komplizierten Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die der zentralen Liebesthematik besonders viele Variationen abgewinnt, wird die Situation der Ehefrau und Geliebten durch ein Stadium abgelöst, in dem die Frau auch das Alleinsein zu meistern versteht.

Die Spanne der einbezogenen Generationen und Zeithintergründe verlängert sich nicht nur mit der fortschreitenden Gegenwart, sondern auch rückwärtsgewandt bis ins 19. Jh. Dominante Themen wie die immer erneuten Orientierungsversuche der Protagonistinnen, die Konfrontation mit dem unter der Oberfläche des Alltagslebens hervorbrechenden Ungewöhnlichen, die Verarbeitung der Vergangenheit – zumal der nicht zur Resignation führenden Enttäuschungen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung – werden so facettenreicher ins Spiel gebracht.

Munros Erzählweise bleibt vorwiegend die des psychologischen Realismus der Moderne, der in den frühen Geschichten oft mit der monoperspektivischen Konzentration auf entwicklungsfördernde Schlüsselerlebnisse einhergeht und später multiperspektivischen, diskontinuierlichen Darstellungsmethoden breiteren Raum gibt. Diese größere Offenheit für wechselseitige Relativierungen und ausgeprägte Ambivalenzen bringt das verstärkte Differenzierungsbedürfnis und eine subtil-ironische Verhaltenheit der Autorin zum Ausdruck, ohne dass dies einem Einschwenken auf Methoden der Postmoderne gleichkäme. Munros Stärke liegt in der Perfektion eines eher traditionell aussparenden, andeutenden Erzählens, das auf wenigen Seiten ganze Lebensläufe mithilfe überraschender Blickwinkel und aufschlussreicher Details vermittelt und entscheidende Einsichten in einem ausgesprochen beiläufigen Ton anbringt. Solche Konstanten und Tendenzen lassen sich schon den Titelgeschichten der frühen Sammlungen Dance of the Happy Shades, 1968 (Tanz der glücklichen Schatten), und Something I’ve Been Meaning to Tell You, 1974 (Was ich dir sagen wollte), entnehmen.

Eine Sonderstellung im Frühwerk nimmt der Band Lives of Girls and Women, 1971 (Kleine Aussichten. Ein Roman von Mädchen und Frauen, 1983), ein, insofern hier die Folge der Geschichten um die gleiche Protagonistin die Kapitel eines locker gefügten Entwicklungsromans ergeben. In der Tradition des modernen Bildungs- und Künstlerromans sowie regionalliterarischer Vorgängerinnen in den USA (Eudora Welty) und Kanada (Margaret Laurence) entwirft Munro das Porträt eines Mädchens, das sich in der beengenden Umwelt von Südwest-Ontario während der 1940er Jahre mit einer Reihe unbefriedigender Bezugspersonen (zumal gegensätzlichen Jungentypen) und den dominanten weiblichen Rollenbildern auseinandersetzt, eine eigenständige Sensibilität gewinnt und sich dem problembewussten Weltverständnis der angehenden Künstlerin nähert. Unter Verarbeitung autobiographischer Erfahrungen zielt die Autorin auf eine mehrdeutige Sicht des »wirklichen Lebens« (»Real Life« lautete der ursprüngliche Titel des Buchs).


Einen Höhepunkt an Komplexität erreicht Munros Erzählwerk in den beiden Bänden The Moons of Jupiter, 1984 (Die Jupitermonde, 1986), und The Progress of Love, 1986 (Der Mond über der Eisbahn. Liebesgeschichten, 1989). In der ersten Sammlung findet sich die zweiteilige Geschichte »Chaddeleys and Flemings«, in der sich die Hauptfigur mit ihrer Herkunft auseinandersetzt: den Flemings, der aus England stammenden und sozial ambitionierten, aber kleinbürgerlichen Familie der Mutter, und den Chaddeleys, der schottisch-presbyterianischen Farmerfamilie des Vaters, deren ›Hinterwäldlertum‹ zugleich stoische Härte bekundet, und das Bekenntnis zum beidseitigen Erbe, dem Veränderungswillen der einen und dem Beharrungsvermögen der anderen Familie. In »Dulse« versucht eine geschiedene Frau, nach einer weiteren gescheiterten Beziehung während eines Inselaufenthalts Abstand zu ihrem bisherigen Leben zu gewinnen, und findet in der Begegnung mit diversen Männern zu einem gelasseneren Selbstverständnis.

In der Titelgeschichte der zweiten Sammlung geht eine Frau beim Tod ihrer Mutter den widersprüchlichen Erinnerungen nach, die sie mit deren nachhaltiger Verbitterung über den Selbstmordversuch der als Ehefrau betrogenen Großmutter verbindet, und reflektiert im Vergleich mit dem Verhalten ihres gegenwärtigen Freundes den historischen Wandel der Liebesauffassung wie die Veränderungen der Liebesbeziehung im Einzelfall. In »Lichen« (»Flechte«) wird die Wiederbegegnung einer allein lebenden, alternden Frau mit ihrem Ex-Ehemann und dessen jüngerer Freundin, die er inzwischen mit einer noch Jüngeren betrügt, geschildert, um die divergierende Weiterentwicklung beider zu veranschaulichen.


Die dialektische Verschränkung der Thematik, die sich unmerklich zu kritischen Pointen entwickelt und in komplexen Strukturen vermittelt wird, ist nicht nur typisch für diese Geschichte, sondern für einen Großteil von Munros Texten gerade aus den 1980er Jahren. Unter den zeitgenössischen kanadischen Autoren, die sich primär der Kurzgeschichte widmen, ist Alice Munro gewiss die bedeutendste.
Lit.: W. R. Martin: A. M. Paradox and Parallel, 1987. • C. A. Howells: A. M., 1998. • The Rest of the Story. Critical Essays on A. M., Hg. R. Thacker, 1999.
Eberhard Kreutzer

Zur Person: Alice Munro


geb. 10.7.1931 Wingham/Ontario (Kanada)

1949–1951 Anglistik-Studium in Western Ontario; 1951–1972 in Vancouver und Victoria (British Columbia); Rückkehr in den Südwesten Ontarios, wo sie auf einer Farm lebt; Lesereisen in alle Welt; bedeutendste Kurzgeschichtenautorin Kanadas: von Dance of the Happy Shades (1968) bis Runaway (2004) elf Sammlungen und drei Auswahlbände.
Lit.: R. Thacker: A. M. Writing Her Lives, 2005.

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