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Macht Ihnen Selfpublishing Angst, Herr Vena?

An der Spitze der E-Book-Bestsellerlisten fehlen immer häufiger klassische Verlage. Marcello Vena, Digitalchef des italienischen Verlagskonzerns RCS Libri, macht sich dennoch keine Sorgen. Die Aussagekraft der Kindle-Charts sei begrenzt.

Vena ist Director für digitale Produkte bei RCS Libri. Die RCS Mediagroup ist nach Mondadori Italiens zweitgrößte Verlagsgruppe, zu ihr zählen Verlage wie Rizzoli, Bompiani und Fabbri Editori. Zuvor war Vena in verschiedenen Branchen als Designer, Unternehmer, Berater und Wagniskapitalgeber aktiv. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Interview, das im Rahmen des Publishers Forum 2014 geführt wurde und im buchreport.magazin 6/2014 zu lesen ist (hier zu bestellen).

Kürzlich stammte in den deutschen Kindle-Top-20-Bestsellern kein einziger Titel von einem klassischen Verlag. Was läuft da schief?

Zunächst einmal muss man sich vor Augen führen, dass die Kindle-Bestsellerliste von Amazon selbst und nicht von einem unabhängigen Forschungsinstitut stammt, insofern zeigt sie, was Amazon zeigen will. Der Verlagsberater Michael Cader hat nachgewiesen, dass diese Liste von unbekannten Algorithmen gesteuert wird, die nicht nur die Anzahl der verkauften Kopien, sondern auch andere Faktoren miteinbeziehen – die Titel an der Spitze sind also nicht unbedingt die absatzstärksten Bücher. Insofern sind die„Kindle Bestseller“ für Amazon eine Art Online-Marketing-Tool wie andere (Buch-Cover, Werbebanner, usw.), um den Verkauf von E-Books anzutreiben.
Nichtsdestotrotz sind Selfpublisher dort besonders stark vertreten. 
Ja, ihnen gelingt es in erster Linie über die niedrigen Verkaufspreise, in die Kindle-Charts zu kommen. Es gibt inzwischen ein riesiges Angebot an niedrigpreisigen bzw. kostenlosen E-Books. Die traditionellen Verlage versuchen demgegenüber weiterhin, über vergleichsweise höhere, aber vernünftige Buchpreise positive Deckungsbeiträge zu generieren, andernfalls gelingt es nicht, den Autoren und Händlern – unter anderen – das Geld zu zahlen, das ihnen zusteht. Und nicht zu vergessen: Für den Verlag selbst muss das E-Book-Geschäft profitabel sein. Der Fokus sollte aber nicht nur auf der Spitze der sogenannten Kindle-Bestseller liegen.
Worauf sonst? 
Was passiert mit den 1 Mio E-Books, die jenseits der Top 20 liegen? Und wie lange bleibt dasselbe selfpublished E-Book an der Kindle-Spitze? Ein Tag, eine Woche, einen Monat? Es ist viel besser, drei Monate lang Nummer 100 zu sein als drei Stunden auf Platz 1. Schließlich müssen Verlage begreifen, dass die Anzahl der verkauften E-Books keine ausreichende Metrik ausmacht. Was zählt, ist die Anzahl der aktuellen Leser. Wir wissen, dass im Durchschnitt etwa 50% der verkauften E-Books innerhalb der ersten drei bis sechs Monate nach dem Herunterladen nicht ein Mal gelesen werden. Dieser Prozentsatz steigt mit kleineren Preisen, je billiger ein Buch, desto seltener wird es gelesen – je 1000 verkaufte digitale Kopien oft nur 100 bis 200. Kleine Umsätze und wenige Leser können also der hohe Preis sein, den Autoren bzw. Verlage zahlen, um an die Spitze der Kindle-Bestsellerliste zu kommen. Wenn eine Bestsellerliste zu einer eitlen Liste für billige Titel wird – im Englischen würde man sie „Vanity List“ statt „Bestseller List“ nennen –, dann verliert sie ihre ursprüngliche Bedeutung und hat mit dem Geschäft von Verlagen ganz wenig zu tun.
Also bereitet Ihnen die Selfpublishing-Konkurrenz wenig Sorgen?
Ich fürchte den Wettbewerb nicht, es geht darum, diesen neuen Markt zu respektieren und ihn genau zu studieren und letztlich als Chance zu begreifen, neue Autoren zu entdecken, die dann auf professionelle Weise verlegt werden. Es reicht nicht, ab und zu den erfolgreichsten Selfpublishern einen Vertrag anzubieten, sondern Verlage müssen regelmäßig nach Erfolg versprechenden Autoren Ausschau halten. 
Ein deutscher Verleger hat kürzlich gesagt, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre gut ein Drittel aller Verlage in Europa aufgrund von Selfpublishing verschwinden werden. Stimmen Sie dem zu?
Es ist schwierig, in die Zukunft zu blicken und solch eine Aussage zu kommentieren, aber in Italien haben wir beispielsweise über 2000 Verlage, von denen vielleicht 1800 zusammengenommen nicht einmal 10% des Marktes ausmachen, weil sie manchmal nur ein oder zwei Bücher im Jahr herausgeben. Die Frage ist für mich, ob die Leser besser oder schlechter dran sind, wenn einige Verlage weniger auf dem Markt aktiv sind. Wir erleben gerade eine darwinsche Evolution: „Nicht die stärksten oder die intelligentesten Spezies werden überleben, sondern diejenigen, die sich am schnellsten anpassen.“ Der Fortschritt ist wie eine starke Welle. Man kann sie nicht auf Dauer stoppen, wohl aber darauf surfen.

Sie machen der Branche Mut zu radikalen Innovationen. Haben Verleger Probleme damit?

Innovationen sind für alle Unternehmen schwierig, weil sie dafür „out of the box“ denken müssen. Der Verlagswelt fällt dies aber tatsächlich noch schwerer als anderen Branchen, weil sie für eine lange Zeit daran gewöhnt war, dasselbe Geschäftsmodell mit denselben Prozessen zu verfolgen. Wenn man aber Innovationen möchte, muss man Prozesse in einem System verändern, das zunächst resistent gegenüber Veränderungen ist. Das ist wie bei einer Schlange, die sich häutet: Es dauert, bis dies abgeschlossen ist, zwischendrin sieht sie anders aus als vorher, aber noch nicht so voll ausgereift wie in der Zukunft. Gerade dieses Zwischenstadium durchzuhalten, ist unglaublich schwierig.

Sie haben Erfahrungen in verschiedensten Branchen gesammelt: Bekleidung, Biotechnologie, Fahrzeugbau. Wie schneiden Verlage im Vergleich dazu ab?

Branchen wie die Autoindustrie sind dazu gezwungen, ständig Innovation zu betreiben. Die Verlagswelt lässt sich vielleicht am ehesten mit der Modeindustrie vergleichen: Man hat im Grunde immer das gleiche Produkt. Die Innovationen betreffen also meist das Marketing oder den Handel, selten aber das Produkt selbst. Doch auch da sind radikale neue Impulse möglich. Innovation hängt nicht nur von kreativen Strategien sondern auch von richtigen Umsetzungen ab. Voraussetzung dafür ist die passende Unternehmenskultur und qualifiziertes Personal, vom Top-Manager bis zu den ausführenden Kräften. Sonst findet man immer gute Entschuldigungen oder Hindernisse, nicht innovativ zu sein. Ohne Talente, Kompetenzen, Partnerschaften, Ressourcen und Timing gibt’s keine Chance.

Die Fragen stellte Daniel Lenz

Kommentare

3 Kommentare zu "Macht Ihnen Selfpublishing Angst, Herr Vena?"

  1. Schön, wenn jemand daran erinnert, dass man Ebooks auch KAUFEN kann. Das ist ja ein Umstand, der zunehmend in Vergessenheit gerät. Zumal auch bei italienischen Lesern.

  2. “ Wir wissen, dass im Durchschnitt etwa 50% der verkauften E-Books innerhalb der ersten drei bis sechs Monate nach dem Herunterladen nicht ein Mal gelesen werden. Dieser Prozentsatz steigt mit kleineren Preisen, je billiger ein Buch, desto seltener wird es gelesen – je 1000 verkaufte digitale Kopien oft nur 100 bis 200. Kleine Umsätze und wenige Leser können also der hohe Preis sein, den Autoren bzw. Verlage zahlen, um an die Spitze der Kindle-Bestsellerliste zu kommen. “ Das finde ich spannend, allerdings wäre eine Quelle dazu nicht übel…

    • Die Quelle ist klar. Ich hatte mich auf unseren eigenen Daten ueber etwa 5000 verschiedenen Titeln und vielen millionen Kopien bezogen.

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