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Gunter Dueck: Einzeln sind wir intelligent – aber nicht im Schwarm!

Gunter Dueck: Einzeln sind wir intelligent – aber nicht im Schwarm!

Im seinem neuen Buch geht Gunter Dueck der Schwarmintelligenz an den Kragen. In „Schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam“ zeigt der frühere Cheftechnologe bei IBM, dass uns die „Schwarmintelligenz“ geradewegs ins Verderben treibt. Denn statt einer Konzentration an Intelligenz regiere im Schwarm oft das Prinzip: Viele Köche verderben den Brei. Eine Leseprobe im buchreport-Blog.

„Derzeit kursieren Hymnen über die neue Schwarmintelligenz! Um sie herum haben sich etliche neue schillernde Heilslehren gebildet. Man bejubelt die Höchstleistungen von Internet-Communitys und der Fruchtbarkeit des Team-Design-Thinking-Ansatzes. Viele träumen von Open Innovation et cetera.

Loblieder auf die Schwarmintelligenz klingen so: »Teams können Dinge erreichen, die einem Einzelnen für immer verwehrt sind! Ein Team verfügt in den Mitgliedern über verschiedenste Talente, die kein Einzelner allein vorweisen kann. Teams können über sich hinauswachsen, das Team ist mehr wert als die Summe der Einzelpersonen. Ein Team bildet Schwarmintelligenz aus!«

Von diesem Modebegriff der Schwarmintelligenz leitet sich der Titel dieses Buches ab. Der Begriff der Schwarmintelligenz stammt aus dem Umfeld des Internets. Dort ist es unter weltweiter Vernetzung von untereinander ganz unbekannten Personen zu erstaunlichen Problemlösungen gekommen. Im Internet trafen sich Menschen und arbeiteten an Erfindungen, schufen gemeinsam OpenSource-Software oder stürzten Diktatoren. Was immer das Problem ist – im Internet weiß bestimmt jemand Rat. Auf der anderen Seite kann sich jeder von uns irgendwo einklinken und mitmachen. Irgendwo kann jeder von uns beitragen. Die Welt weiß insgesamt, was lokal oder am eigenen Arbeitsplatz unbekannt ist.

Viele Pioniere der Zukunft schwärmen heute von kollektiver Intelligenz, wie man die Schwarmintelligenz auch nennt. Diese Intelligenz kann natürlich über das Medium des Internets viel einfacher aktiviert werden. In der Wikipedia heißt es dazu: »Das Internet vereinfacht wie nie zuvor, dezentral verstreutes Wissen der Menschen zu koordinieren und deren kollektive Intelligenz auszunutzen.« Aus den Einzelintelligenzen erwächst, so kann man erwarten, die »Weisheit der Masse«.

An diesen Ideen ist aber ein großer Haken dran! Den sollten Sie nach meinen einleitenden Beispielen und Überlegungen sofort sehen. Wenn ich ein Problem mit Schwarmintelligenz lösen möchte, suche ich mir in Foren des Internets, in meinen Google+-Kreisen oder unter Followern bei Twitter oder Facebook Leute zusammen, die begeistert gerne zur Lösung meines Problems beitragen wollen. Wir bilden ein Team aus lauter Leuten, die wirklich Lust dazu und Freude an der Zusammenarbeit haben. Wem es nicht gefällt, der bleibt weg. Wer zusätzlich mitmachen will, kommt dazu. So sind die Gesetze des Internets. Ein wechselnder (!) Schwarm von Begeisterten geht zur Sache. Dabei entsteht aber niemals – in Worten: niemals – die Weisheit einer großen Masse, sondern die Weisheit dieses einen speziellen Teams, das sich genau für diesen einen bestimmten Zweck zusammengefunden hat. Niemand hat hier Nebeninteressen, niemand will sich als Person hervortun – es geht ausschließlich darum, gemeinsam das Problem mit großer Freude dabei zu knacken. Und als Nebenprodukt fällt für jeden ab, weltweit verstreute Experten und Freunde zu finden, viel Neues gelernt zu haben und wohlig die eigene Wirksamkeit empfunden zu haben. Das bekommt wirklich jeder im Team mit, sonst – so sind die Gesetze im Netz – ist er schon lange nicht mehr dabei. Und wenn das Problem gelöst ist – das ist ein wichtiger Punkt –, gehen alle wieder ihrer Wege. Neues Problem – neuer Schwarm. Dann hat jeweils dieser Schwarm oder dieses spezielle Team Schwarmintelligenz. Solch ein Ad-hoc-Team kann gemeinsam aufbrechen, etwas Smartes oder genial Einfaches zu kreieren und zu gestalten. Das gelingt oder kann gelingen, weil in einem solchen Team alle Mitglieder diesen Sinn für das Ganze, Klare und Vollendete mitbringen, weil sie allen den gleichen Traum träumen. Sie sind in aller Regel schon Experten und wollen es jetzt bringen und am besten gleich weltweite Bewunderung erregen (die man mit unausgereift Kompliziertem und Hochkomplexem nicht bekommt). So entstehen im Internet und im Silicon Valley die großen neuen Ideen der nächsten Zeit, die unser Leben derzeit so stark verändern. Schwarmintelligenz ist gut möglich, wenn alle »den Elefanten sehen können«.

Im realen Leben aber funktioniert das nicht. Denn in der Unternehmenswirklichkeit treffen nicht für jedes spezielle Problem die jeweils besten Experten in immer neuen Teams zusammen, sondern wir haben sehr gemischte Abteilungsmeetings mit immer denselben Zusammensetzungen und eher Kreisklasse als Weltklasseexperten. Im Internet schwärmen vielleicht die intelligenten Weltmeister, aber auf dem Flur stoppeln wir uns wieder einmal eine mittelmäßige und nicht ganz ausgereifte Lösung zusammen. Wir bleiben brav innerhalb unseres Tellerrandes oder Gebäudeteils, wir zanken uns untereinander, wir reden nicht einmal mit einer anderen Abteilung in dritten Stock.

Ich will sagen: Im wirklichen Leben löst man die verschiedensten Probleme in immer gleicher Umgebung, nämlich im Unternehmen, in der Familie, in der Partei, beim eigenen Kundenstamm oder in Abteilungsmeetings. Neues Problem – alte Abteilung. Da erlebt man nicht so oft die Weisheit der Masse, wenn überhaupt je! Gemeinschaften und Teams sehen sich unter vielen verschiedenen Interessenlagen gelähmt und änderungsunwillig. Meetings oder Streitigkeiten, die um die immer gleichen Streitpunkte kreisen, lassen uns verzweifeln. Keine Spur von Schwarmintelligenz – hier herrscht die Schwarmdummheit!

Ich habe in Meetings so manches Mal in tiefem Frust an das Theaterstück Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre denken müssen: »Die Hölle, das sind die anderen.« Worum geht es im Stück? Drei Menschen sind nach ihrem Tod – wie sie im Verlauf des Stücks merken – in der Hölle gelandet und finden bald heraus, dass sie nun (als ultimative Folter) auf ewig zusammengesperrt sind, sich auf alle Zeit in einem Meeting befinden und sich auf die Nerven gehen müssen. Am Schluss, nach vielen Verzweiflungsausbrüchen und der Erkenntnis der wahren Lage spricht die männliche Hauptfigur die schrecklichen resignierten Worte: »Also – machen wir weiter …« So schlimm ist es oft im Leben: Wieder das alte Problem – alte Abteilung.

Da kam mir der Gedanke, dass es in vieler Hinsicht auch Schwarmdummheit in Gemeinschaften gibt, die sich ja oft mit Entscheidungsfindungen schwer tun oder gar quälen. Zwistigkeit ist dort eher die Regel. Gemeinschaften und Teams sehen sich meistens unter vielen verschiedenen Interessenlagen gelähmt und änderungsunwillig. Meetings oder Ehestreitigkeiten, die um immer dieselben Streitpunkte kreisen, lassen uns ganz verzweifeln. Mich selbst jedenfalls! Ich habe die Mehrzahl von Meetings wie gestohlene Lebenszeit empfunden. Denn im Meeting treffen sich eben nicht nur Leute, die voller Freude ein Problem lösen wollen und sich extra deshalb zusammengefunden haben.Nein, es kommen fast niemals Sieben Samurai zusammen. Nein, es treffen sich immer dieselben Streithähne, die ein (meist durch eigene Schuld) entstandenes Problem lösen müssen – und dafür sind sie nicht die Experten, sonst wäre das Problem nicht da.

Einzeln sind wir intelligent – aber nicht im Schwarm!

Jeder Einzelne sagt heute, dass Innovation für die Zukunft wichtig wäre und dass unser Land in Bildung investieren sollte – ja, jeder Einzelne sollte sich auf der Stelle weiterbilden und für die Zukunft vorbereiten. Aber tun wir als Team, Gruppe oder Gesellschaft, was wir einzeln wissen? Wenn ich frage: »Was können wir in unserer Gesellschaft verbessern?«, dann kommen mit traumwandlerischer Sicherheit aus fast allen Unternehmen und Organisationen die folgenden Antworten (und ich wette, auch von Ihnen):

• Wir sollten aktiver sein, nicht immer nur auf Fehler, Marktverschiebungen und Wettbewerber reagieren.

• Work smarter, not harder!

• Wir müssen nachhaltig arbeiten, nicht quartalsergebnisgetrieben.

• Unser Team muss zum echten menschlichen Team werden, wir müssen über reine Arbeitsverteilung hinauskommen.

• Wir dürfen uns nicht in Abteilungen verzetteln, jeder muss auch seinen Teil zum Ganzen beitragen.

• Wir sollten mörderischen Stress vermeiden, weil sonst zu viele Fehler entstehen und wir psychisch krank zu werden drohen.

• Wir müssen viel mehr Zeit für Innovation und Neuerfindung aufwenden. Kreativität wird immer wichtiger.

• Wir sollten uns sehr viel Zeit zur Weiterbildung nehmen und uns dabei in der ganzen Welt umschauen und lernen.

• Wir sollten die Prozesse im Unternehmen einfach gestalten.

• Wir sollten ein klares gemeinsames Ziel haben, eine konkrete Vision, die etwas Konkretes beschreibt – nicht ein abstraktes »schneller wachsen als der Markt«.

Können Sie unterschreiben, oder? Aus diesem gemeinsamen Stöhnen quer durch alle Organisationen wird deutlich, dass die jetzige Situation als bedrückend-stressend, kompliziert und lähmend empfunden wird. Vermisst werden Proaktivität, Nachhaltigkeit, freudige Zusammenarbeit, Weiterbildung, Erneuerung und Innovation! Es geht immer um Smartness, die fehlt. Jeder einzelne von uns will Smartness, träumt von Einfachheit, betrieblichem Frieden, Balance aller Kräfte und Zukunftszuversicht. Aber die internen Kämpfe, der Stress und die Kompliziertheit der Organisation zehren unnötig, also sinnlos an unseren Kräften. .

Fragen Sie sich: Was gehört zu »smart«? Sie werden sagen: Visionen, Missionen, freundliches Betriebsklima, Führungskultur, ethische Leitlinien, Vertrauen, Offenheit, Teamgeist, Kollegialität, gute Kommunikation, Begeisterung, Identifikation, Geborgenheit, Sicherheit des Arbeitsplatzes, Selbstwirksamkeitsgefühl bei der Arbeit, Kooperation, Entwicklungsmöglichkeiten, Coaching, Mentoring, Karriereoptionen, Nachhaltigkeit, Diversity, faire Vergütungen und Arbeitszeiten, gute Beziehungen zu Kunden, Tatendrang, Innovation, Stolz auf die Arbeitsergebnisse und Arbeitsfreude bei deren Erbringung, für diesen Zweck fördernde und effektive Strukturen und Abläufe.

Fragen Sie sich: Was gehört zu »dumm einfach bis hin zu unausgereift kompliziert«? Sie werden sagen: Arbeitsdruck, Eile, Hektik, Kurzfristigkeit, Aktionismus, unbezahlte Überstunden, Wettbewerb untereinander, Silodenken und Abteilungsrivalitäten, fehlende Zeit zum Lernen, keine Zeit für strategische Überlegungen, für Erneuerung, Kundenkommunikation und Innovation; Arbeitsplatzverlustangst, Unsicherheit über die Zukunft, Geiz bei Vergütungsfragen, zögerliche Beförderungen, ständiges unruhiges Getriebensein, alles geschieht auf den letzten Drücker – und dann nur so gut es eben geht; auch deshalb ständige Kontrollen, Meetings, Reviews, Statusmeetings, Leistungsmessungen und bedrückend persönliche Vergleiche mit anderen, immer negativerer Stress.

Als Einzelne wissen wir ganz genau, was sein sollte. Aber wir arbeiten so im Schwarm zusammen (in Teams, Abteilungen, Institutionen, Organisationen, Unternehmen, Parteien), dass wir oft der Verzweiflung nahe sind. Wir fühlen, dass wir als Einzelne gut und intelligent arbeiten: »Das Beste an der Firma ist meine Arbeit.« Aber die Zusammenarbeit im Schwarm klappt nicht: »Das Fürchterlichste sind die Abläufe, Prozesse und endlos unfruchtbaren Meetings.« Und wir stöhnen: »Ach, wie schön wäre es, wenn wir unsere Energien in die gleiche Richtung lenken, wenn wir einem gemeinsamen Ziel froh entgegenarbeiten würden, wenn wir unsere Kräfte bündeln könnten, wenn wir ein Ganzes wären – ein einiger Schwarm.«

Gute oder schlechte Gestalt macht den Unterschied

Schwarmdummheit entsteht, wenn das Ganze nicht klar verstanden ist und kein Ganzes das Team einigt. Sie entsteht auch, wenn ein Ganzes angestrebt wird, das gar nicht erreicht werden kann, oder wenn für den Weg zum Ganzen die Mittel und Fähigkeiten fehlen.

Vieles scheitert schon daran, dass es keine gute Vorstellung vom Ganzen gibt, dann kann es ja auch nicht verstanden werden. Stellen Sie sich vor, dass Bill Gates als Microsoft-Chef etwa 1990 gesagt hätte: »Wir bauen ein Computer-Betriebssystem für alle Menschen, sodass sie ihre Rechner absolut multimedial benutzen können, und wir versorgen alle Menschen mit einen Super-Super-Office-System, das alle Wünsche rund um Texte und Präsentationen erfüllt.« In diesem Fall ist absolut jedem Mitarbeiter und Kunden klar, was jetzt in den nächsten 15 Jahren getan werden soll. Das Ganze ist noch fern, aber jeder sieht es schon mehr oder weniger klar vor sich.

Viele Top-Manager aber beschreiben das, was sie als Ganzes werden wollen, so: »Der einzige Zweck unseres Unternehmen und unserer Arbeit ist es, den Gewinn Jahr für Jahr zu steigern. Dieses Jahr haben wir uns zwölf Prozent vorgenommen. Das ist unser Ziel und unsere Vision.« Das Wort Vision kommt von Sehen, aber bei »12 Prozent« sieht man nichts – wir fühlen allerdings schon die Mühsal und das wöchentliche Drängen auf das Gehen der Extrameile et cetera.

Wenn man die Schwarmdummheit eindämmen oder verhindern will, dann ist »eine gute angestrebte Gestalt« unerlässlich, die jeder sehen und verstehen kann und die sich auch jeder wünscht, weil er sie sinnvoll findet. Im Amerikanischen gibt es schon lange die Gestaltpsychologie oder den »gestaltism«. Gestaltpsychologen erforschen Phänomene des ganzheitlich gesehenen Gehirns, das beim Blick auf etwas Unbekanntes sofort Strukturen und Ordnungen erkennt und insbesondere die »Gestalt« oder die »Idee des Ganzen«. Wenn man dem Gehirn einzelne Glühbirnen zeigt, die wie ein Stern angeordnet sind, so erkennt es auf der Stelle »Stern«, aber niemals »47 Glühbirnen«.

Gestaltpsychologen machen sich in diesem Sinne Gedanken, welche Idee oder Gestalt sich vom Gehirn am besten erfassen lassen. Das hier wichtige so genannte Gesetz der Prägnanz besagt (Wikipedia): »Es werden bevorzugt Gestalten wahrgenommen, die sich von anderen durch ein bestimmtes Merkmal abheben (Prägnanztendenz). Jede Figur wird so wahrgenommen, dass sie in einer möglichst einfachen Struktur resultiert (= ›Gute Gestalt‹).«

Was wird denn für gewöhnlich als »prägnante Gestalt« wahrgenommen? Apple, Google, Audi, FC Bayern, Real Madrid, Amazon … immer dieselben Unternehmen! Und was, bitte, ist an einer »Vision« prägnant und sinnlich positiv wahrnehmbar, die die Form eines Wunsches hat? »Wir wollen stärker wachsen als der Markt. Wir müssen härter denn je kämpfen und natürlich noch mehr einsparen.« Hinter dieser Aussage steckt keine Vorstellung von einer Gestalt der Zukunft, sondern eine wahrscheinlich an allen Ecken und Enden erzwungene Geldeinsparung, dazu kommen Entlassungen, höhere Ziele und »Brandreden«. Man weiß schon, dass »stärker wachsen ohne Vision« ein furchtbarer Flickenteppich von Maßnahmen erzeugen wird. Stückwerk eben.

Kompliziertes Stückwerk hat keine gute Gestalt. Das sehen wir auf den ersten Blick. Komplexe Strukturen haben oft keine auf den ersten Blick erkennbare Struktur, sie sind unklar und unübersichtlich – ein Moloch, ein Dschungel von Zuständigkeiten oder ein Unternehmenskrake. Unter »Prägnanz« finden wir im Duden die Synonyme: Klarheit, Treffsicherheit, Genauigkeit, Deutlichkeit, Bündigkeit und Griffigkeit. Das ist schon ganz nahe bei genial einfach, oder? Ich würde noch hinzufügen: wohlgestaltet, wohlproportioniert, harmonisch, edel, grundanständig, qualitätsvoll, stilvoll, redlich, hochwertig und fein. Das alles gehört auch zu genial einfach. Oder lassen Sie mich noch aus Wikiquote im Internet zitieren: »Simplicity is the property, condition, or quality of being simple or un-combined. It often denotes beauty, purity, or clarity. Simple things are usually easier to explain and understand than complicated ones. It is also a term used to denote candor, guilelessness, innocence, straightforwardness, and freedom from duplicity.« Gekürzt auf Deutsch: Das Einfache ist unkombiniert, schön, rein und klar. Es lässt sich meist einfacher erklären und verstehen. Das Einfache steht oft auch für Aufrichtigkeit, Offenherzigkeit, Arglosigkeit, Unschuld, Geradlinigkeit und das Fehlen unnötiger Redundanz.

Schwarmintelligenz macht aus »47 Mitarbeitern« ein Bauwerk, eine Software, eine Glaubensgemeinschaft, eine neue Forschungsrichtung, einen Hollywood-Blockbuster, eine Weihnachtsfeier, einen Ameisenhaufen oder allgemein ein angestrebtes Ganzes mit einer guten Gestalt. Jeder Einzelne im Schwarm will Teil des Schwarms sein und sich für den gemeinsamen Zweck einsetzen, und zwar richtig gerne. Es gibt eine starke Wechselwirkung zwischen der Gestalt des Ganzen und ihrem Zweck einerseits und den einzelnen Menschen andererseits, die dieses Ganze erbauen und pflegen. Die Menschen identifizieren sich mit dem Ganzen, und das Ganze, wenn es gut ist, gibt ihnen Stolz zurück. Die Menschen geben dem Ganzen all ihre Kraft, aber das Ganze gibt ihnen große Energie zurück, weil es sie mit Genugtuung erfüllt. Es macht Freude, für ein Stolz verleihendes Ganzes zu arbeiten, ein Teil davon zu sein, Teil zu haben und die Arbeit daran als wortwörtlicher Amateur (»Liebender«) zu leisten.

Wenn es Menschen lieben, Teil eines Ganzen, Teil einer guten Struktur zu sein, die von anderen Menschen als gute Struktur prägnant wahrgenommen wird, dann erhebt sie die gute Gestalt über sie als Mensch hinaus. Der Gartenbaumeister, der bei Bayern München den heiligen Rasen mäht, ist sicher nicht einfach Mäher. Er ist Teil des Sieges. Mein Schwiegervater war stolzer Bundesbahner, er sah sich als Teil absoluter Zuverlässigkeit und vorbildhafter Pünktlichkeit. Das sprichwörtliche »pünktlich wie die Bundesbahn« erhöhte ihn als Person, er nahm seine Pflichten entsprechend ernst – zwischen ihm und den Werten der Bahn gab es starke Wechselwirkungen. Er dreht sich heute ganz sicher im Grabe, wenn verärgerte Bahnreisende bei einer »Störung im Betriebsablauf« das Wort Gurkentruppe in den Mund nehmen.

Diese positiven Wechselwirkungen stellen sich natürlich nur ein, wenn es sich um eine wirklich gute Gestalt handelt, deren Teil man sein darf. Können Sie nicht förmlich den Stolz eines Zugchefs von früher mitfühlen? Und dazu den Zugchef von heute, der sich so oft entschuldigen muss und überall nervöse Anfragen von anschlussgefährdeten Reisenden im Nacken spürt?

Viele Unternehmen sind heute keine gute Gestalt mehr, sie sind ein sehr komplexes und kompliziertes Stückwerk geworden, in dem jeder seinen Arbeitsplatz hat. Jeder hat seine Arbeit zu tun, immer schneller und konzentrierter, aber man empfängt kaum noch Energie aus der guten Gestalt des Ganzen. Der Stolz von einst erhebt uns kaum noch. Diese Energie, die fehlt uns.

Schwarmdummheit bestellt zum Mähen des heiligen Rasens wechselnde Billigarbeiter, sie stellt sich den Weihnachtsfeiernden vor als »Etat für zwei Glühwein, zehn Kekse«. Sie ehrt nur noch formal und erfüllt nicht mehr die Seele. Sie achtet nicht mehr auf die Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen im Schwarm. Sie verliert oder vernichtet damit eine große Menge von Energie aus dieser Wechselwirkung. Ja, und dann stöhnt die Schwarmdummheit, dass leider alles unkoordiniert durcheinanderwirbelt, dass nichts ohne Störung und Egoismus funktioniert und die Energie sich partout nicht »ohne Tritt ins Hinterteil« entfalten kann.

Eine gute Gestalt, ein Ganzes, das Smarte, das genial Einfache erfüllen den Schöpfer mehr als sie an Energie kosten. Schwarmdummheit aber vernichtet Energie. Es hört sich an wie »Wir laufen im Kreis.« – »Wir kämpfen gegeneinander statt miteinander.« – »Wir wirbeln im Unternehmen wie bei einer Pirouette. Hohe Drehzahl, aber wir bewegen uns nicht von der Stelle.« – »Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.« – »Viel Lärm um nichts.« – »Wir kommen nicht voran, obwohl wir rennen wie verrückt.« – »Wir laufen im Hamsterrad.« Dieses sinnlose Abstrampeln im Hamsterrad ist heute ein absolut gängiges Bild der Energievergeudung. Es bezeichnet den Vorgang der Verschwendung. Das Ergebnis ist – nichts. Als Mathematiker stelle ich mir die Kräfte, die in einem Schwarm wirken, wie Kräftevektoren vor, die in sehr verschiedene Richtungen ziehen und damit wenig bewirken.

Am leichtesten lässt sich Energie verschwenden, wenn man wie Sisyphos vergeblich etwas versucht, was man nicht schaffen kann oder wenn man im Hamsterrad immer schneller strampelt ohne jemals anzukommen. Dummheit ist – das sagt man sich so oft – immer dasselbe zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Mit diesem Mechanismus möchte ich die Erforschung der Schwarmdummheit mit Ihnen beginnen.“

dueck_schwarmdummheitGunter Dueck: Schwarmdumm. So blöd sind wir nur gemeinsam.
Campus Verlag 2015
Hardcover gebunden
324 Seiten
24,99 Euro
EAN 9783593502175

Foto Gunter Dueck: Commonlense.de

Kommentare

1 Kommentar zu "Gunter Dueck: Einzeln sind wir intelligent – aber nicht im Schwarm!"

  1. >>Im realen Leben aber funktioniert das nicht.

    Vielleicht weil wir diesbezüglich alle erst am Anfang sind..

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