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E-Books nicht den Software-Ingenieuren überlassen

Bei digitalen Angeboten gestalten Grafiker keine Endprodukte mehr. Auf gute typografische Gestaltung muss man deshalb nicht verzichten. Typografie-Experte Jan Middendorp erklärt, warum es an der Zeit ist, dass das Gestalten von elektronischen Büchern eine Sache der Gestalter wird.

Der Text stammt aus dem buchreport.spezial Herstellung & Management 2013 (hier zu bestellen).

E-Typografie, das klingt wie ein Wort, das sich in Fachkreisen schon lange eingebürgert hat und jetzt langsam das Publikum erreicht. Aber der Schein trügt: Der schöne Ausdruck wird von E-Professionals kaum verwendet. Vielleicht, weil „elektronische Typografie“ alles und nichts bedeuten kann. Oder weil die Puristen sagen, Typografie sei ein Oberbegriff und gelte gleichermaßen für jede Verwendung von Text. Vielleicht aber auch, weil heute fast alle Typografie elektronisch ist. Zwar gibt es weiterhin und auch jüngere Blei-, Holz- und Stempel-Enthusiasten mit Freude am handwerklichen Drucken, aber: 99% der professionellen Textproduktion entsteht am Computer.

Was sich geändert hat (und vielleicht tatsächlich ein E-Wort verdient), ist das Phänomen, dass wir fast alle auch auf elektronischem Wege Texte konsumieren. Wir lesen seit Längerem E-Mails, SMS-Nachrichten und ab und zu längere Texte auf einer Website, seit Kurzem sind massenweise Online-Zeitungen, Blogs, E-Books und mehr dazugekommen. Zwischen Computer und Handy hat sich eine erstaunliche Zahl von Hardware gedrängt, Geräte, von denen wir uns vor fünf Jahren kaum hätten vorstellen können, dass jemand sie haben will. Kurzum, neu ist das massenhafte Lesen am Bildschirm, fest und mobil; und neu ist auch die enorme Vielfalt an Bildschirmformaten und -auflösungen.

Neue Technik kostet zunächst Ästhetik

Es ist mit der Hardware-Entwicklung extrem schnell gegangen. Und wie immer, wenn es schnell gehen muss, um vor der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein, haben Ingenieure die Neigung, etwas Wichtiges aus dem Auge zu verlieren, das eigentlich im Mittelpunkt der Entwicklung stehen sollte: Wie man etwas Neues entwickeln kann, ohne wegzuwerfen, was am Alten gut war. Das war so, als im 19. Jahrhundert industriell produzierte Bücher jahrhundertealte Kenntnisse über Lesbarkeit ignorierten und mit neuer Technik schnell und gleich Zehntausende von unangenehm aussehenden Drucksachen produzierten. Es passierte in den 60er- und 70er-Jahren, als die Verkäufer der neuen Fotosatztechnik ihre Kunden zu überzeugen versuchten, dass unscharfe Texte und deformierte Schriften einfach zur neuen Zeit gehörten. 

Die digitale Typografie der vergangenen 15 bis 20 Jahre hat bewiesen, dass mit elektronischen Mitteln mindestens ebenso schöne, leserliche, ästhetische und kräftige Typografie möglich ist wie in den goldenen Zeiten des Bleisatzes. Man muss nur wollen! Denn es lohnt sich, wenn sich Auftraggeber nicht nur für Geschwindigkeit und höhere Gewinnmargen interessieren, sondern auch für die Freude des Benutzers. Die Form und Gestaltung einer Publikation trägt ebenso zum Nutzen und zum empfundenen Wert bei wie die Form eines Autos oder die einer Kaffeemaschine. Bei der Produktion von neuen Autos und Haushaltsgeräten spielen Designer eine Schlüsselrolle, und das ist bei erfolgreichen Publikationen nicht anders.

Was selbstverständlich klingt, gilt für das neue elektronische Lesen leider nicht. Bei der Produktion der meisten heutigen E-Books ist beispielsweise die Gestaltung gleich null und die Rolle des Typografen gestrichen – nicht nur, weil es schnell gehen muss. Das Ergebnis ist ein Medium, das weder das tut, was gedruckte Bücher 570 Jahre lang hervorragend konnten, noch – stattdessen – etwas Neues: Die Interaktivität und Bilddarstellung sind mangelhaft, das Zurückfinden von Passagen oft schwieriger als in einem Buch aus Papier. 

Der E-Reader: Nur ein Übergang?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass E-Books und E-Reader nur ein Übergangsmedium sind. In den letzten 30 Jahre haben elektronische Geräte mit lediglich einer Funktion jedenfalls meist nur kurz gelebt. Die wachsende Popularität von Tablets und Netbooks zeigt, wohin die Reise geht:

  • Bücher und Zeitungen werden Teil eines Totalerlebnisses, in dem Internet, statische Publikationen, Fernsehen und Video nahtlos ineinander übergehen.
  • Die Hardware, das heißt der Bildschirm (weil alles andere weiter miniaturisiert wird, bis es fast unsichtbar ist), könnte auf Dauer mehr wie ein Blatt Papier statt wie ein Fernseher aussehen: Ein leichter, vielleicht aufroll- oder faltbarer Bogen mit ultrahoher Auflösung. 
Dann werden fast alle Beschränkungen der heutigen E-Typografie behoben sein, dann wird Typografie wieder die Aufgabe der Gestalter, die selbstverständlich bis dahin eine neue Sensibilität für Interaktivität und sinnvolle Multimedialität entwickelt haben werden.

So weit die Zukunft. Heute müssen wir uns mit den Unvollkommenheiten der Übergangssituation auseinandersetzen. Dabei bestimmen zwei unterschiedliche Felder die Diskussionen über Bildschirmtypografie: Webtypografie und E-Publication.

Grundsätzlich geht es um dieselbe Problematik: Ein Inhalt muss als lesbarer und genießbarer Text dargestellt werden, ohne dass man die Form des Endergebnisses genau vorhersagen kann. Denn: Die Software und die Hardware, die das Ausgabeformat und die Auflösung bestimmt, können variieren. Man gestaltet also kein Endprodukt, sondern eine Sammlung von Möglichkeiten, sprich eine Reihe von Instruktionen und Regeln. Es geht dabei um zwei Ebenen: Die Textformatierung und die Fonts.           
Layouten fürs Web: Fortschritt dank Webfonts
Ein vernünftiges Seitenlayout ist im Web schon von Anfang an möglich, dank Tablets, Frames und mehr. CSS (Cascading Style Sheets) und zusätzliche typografische Instruktionen an den Browser können helfen, Texte elegant und detailliert zu formatieren. Ein Engpass war lange die Schriftwahl. Weil der Browser nur die Fonts einsetzen konnte, die auf dem Computer des Benutzers vorhanden waren, sind die meisten Websites mit Systemfonts gestaltet worden. Anspruchsvolle Designer entschieden darum oft, den Text einfach als Bild in ihrer favorisierten Schrift darzustellen. In diesem Fall aber ist der Text nicht mehr „lebendig“ und kann nicht von Suchmaschinen gefunden, kopiert oder von einem Roboter vorgelesen werden; und bei Änderungen muss immer der Webdesigner an den Quellcode.
Seit etwa drei Jahren ermöglichen Webfonts die Darstellung von „lebendem“ Text in einer riesigen Auswahl von Schriften. Der Gestalter ist dabei unabhängig von der Schriftkollektion des Empfängers, da Fonts jetzt (in komprimierter Form) zusammen mit der Website serviert werden, genauso  eingebunden wie die Bilder. Noch läuft das nicht ganz einwandfrei: Manche Fonts funktionieren am Bildschirm schlecht, vor allem in kleinen Schriftgraden. Eine immer bessere Zusammenarbeit zwischen Webdesigner, Schriftgestalter und Lieferanten muss helfen, diese Kinderkrankheiten zu beheben. Auf jeden Fall sehen heute viele Websites unendlich viel besser aus als vor fünf Jahren. Mehr und mehr Webdesigner interessieren sich für die Möglichkeiten klassischer Typografie und freuen sich, sie auch bei Bildschirmtypografie anzuwenden.
E-Book-Gestaltung: Purer Luxus
Während Webgestaltung oft in der Verantwortung kleiner, individueller Gestaltungsbüros liegt, ist das Layout von E-Books und anderer Publikationen, die mit der Epub-Norm hergestellt werden, abhängig von großen, oft globalen Unternehmen – Hersteller der E-Reader-Hardware und Fontlieferanten auf der einen Seite, Verlage auf der anderen. Der Epub-Standard macht vieles möglich, auch CSS und Font-Embedding, wie im Web, aber: Die Schrift-Urheber wollen dafür bezahlt werden und dazu fehlt es oft bei den Verlegern an Motivation und Geld. Außerdem ist es bei Textbüchern wie Romanen bequemer, einfach die Standardfonts des Gerätes zu benutzen (welche auch immer) und deshalb völlig auf Textgestaltung zu verzichten. Silbentrennung? Ha! Purer Luxus, findet der Rotstift des Controllers. Die Werbung des neuen E-Readers von Sony zeigt eine ganze Seite, ohne eine einzige Trennung. „Ausgereift“ steht in der Schlagzeile. So ausgereift wie das erste Satzbild von Johannes Gutenbergs berühmter 42-zeiliger Bibel von 1452 ist Sonys Reader aber noch lange nicht.
Ob für E-Reader, Tablets oder neue Hardware-Hybriden – es ist an der Zeit, dass das Gestalten von elektronischen Büchern eine Sache der Gestaltern wird und nicht den Software-Ingenieuren überlassen bleibt! 
Zum Autor: Jan Middendorp
ist Autor von Fachbüchern wie „Dutch Type“ (2004), „Hand to Type“ (2012) und „Shaping Text“ (2012).  Er ist Gastdozent an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Er arbeitet als Redakteur und Berater für MyFonts, das weltweit größte Webportal für Fonts, und ist Partner des deutschsprachigen Typo-Blogs MyFonts.de. Redaktion des Texts durch Bertram Schmidt-Friderichs

Kommentare

5 Kommentare zu "E-Books nicht den Software-Ingenieuren überlassen"

  1. Susanne Vieser | 18. Juni 2013 um 15:18 | Antworten

    Hat mit dem Inhalt wenig zu tun: Aber warum jetzt auf einmal End-Produkte? End-Verbraucher? End-Ziele? Dieser inflationäre Gebrauch der Vorsilbe End- ist erschreckend. Ein Verbraucher steht übrigens immer am Ende der Produktionskette, es gibt gar keinen Endverbraucher. Ebenso ist das mit dem Produkt, es gibt nichts produziertes, das nochmals endproduziert werden würde. Und mit den Endzielen haben wir ja schon Erfahrungen gemacht…..

  2. Alena Dausacker | 18. Juni 2013 um 13:02 | Antworten

    Das größte Problem bei der Aufbereitung digitaler Texte ist im Moment noch die Vielzahl an Geräten, insbesondere deren unterschiedliches typografisches Können. Die Vernachlässigung in der Textgestaltung ist meiner Meinung nach auch der Unüberschaubarkeit der Endgeräte geschuldet, die die Verleger und Hersteller eine Minimalvariante als einzig praktikable Lösung nahe legt. Hier sind dringend Standards vonnöten, auf die man sich verlassen kann. Wenn Webfonts auf Smartphones nicht geladen werden oder auf Readern gar nicht erst dargestellt werden, kann kein Gestalter mehr seiner Arbeit nachgehen.

    Da die Gerätehersteller sich jedoch noch nicht einmal auf ein gängiges Format für eBooks einigen können (ich schaue in Richtung Amazon), ist das Zukunftsmusik. Wenn die Hard- und Softwarehersteller sich nicht einigen kann, muss eventuell die Verlagsbranche einspringen und Standards festlegen, nach denen die Ingenieure sich dann richten können.

    Ich denke, ich werde auf http://www.typearea.de noch mal ausführlich darüber schreiben.

    • Lucas Lüdemann | 18. Juni 2013 um 14:49 | Antworten

      Das Problem scheinen mir nicht die fehlenden Standards zu sein, denn EPUB ist bereits einer. Sondern viel mehr die korrekte Implementierung. Bis heute hat es nicht einmal Apple geschafft mit seiner iBooks-App eine vernünftige Umbruchkontrolle umzusetzen. Der Standard dafür wurde festgelegt, nur das Interesse der Geräte- und Software-Hersteller scheint nicht hoch genug zu sein. Das liegt vielleicht auch daran, dass der Fokus der Öffentlichkeit darauf nicht groß genug ist (Oder wie würde das klingen, wenn bei der nächsten Apple Keynote Tim Cook vor aller Welt über Apples Text-Umbruch zu schwärmen anfinge). Stattdessen legt man auf die Einbettung von Videos, Audios, 3D-Animationen und anderen Schnickschnack wert.

      • ePUB ist ein SEHR schwammiger Standard, sozusagen ein Eimer in den man einen Besenstiel steckt, ein Gerät das den ePUB-Standard erfüllt stellt noch lange keine schönen eBooks dar. Die Problematik liegt darin, dass Gestaltung eben über XHTML und CSS läuft und diese Elemente werden vom ePUB-Standard nicht diktiert, sie stehen nur zur Verfügung. Und wie vielfältig die Interpretation von CSS und beliebig komplizierter DOM-Struktur sein kann, dokumentiert der jahrelange Kampf um browserkompatibilität bei Internetseiten. Bei eReadern kommt auch noch hinzu, dass sie aus dem Konkurenzkampf heraus Darstellungselemente an sich reisen müssen, um sich von anderen Geräten abzusetzen. Daher hat jeder Reader acht wunderschöne Schriftaren, aber eben jeder acht andere.

      • Alena Dausacker | 19. Juni 2013 um 8:14 | Antworten

        Was Tina sagt. Der Standard ist da, er ist nur nicht implementiert. Aber so lange er das nicht ist, kann man nicht wirklich von einem Standard reden.

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