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Auf der Suche nach Harmonie

Ein (vermeintlicher) Schwerenöter, wie er im Buche steht: Heute, am 2. April, vor 284 Jahren wurde Giacomo Girolamo Casanova geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an die 4000 Seiten umfassenden Memoiren Casanovas. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

Histoire de ma vie

(frz.; Geschichte meines Lebens, 1964–1967, H. v. Sauter) Die im Originaltext nahezu viertausend Seiten umfassenden Lebenserinnerungen entstanden ab 1790 auf Schloss Dux in Böhmen und wurden erstmals 1960 bis 1962 veröffentlicht. Etwas resigniert und vereinsamt macht sich der berühmte Literat und Abenteurer im Alter von 65 Jahren an die Niederschrift der entscheidenden vier Dezennien (1734–1774) seines wechselvollen Lebens. Der Bericht setzt ein, als das bei der Großmutter aufgewachsene Schauspielerkind mit acht Jahren in eine Schülerpension nach Padua gebracht wird, und er bricht ab, ehe der fast 50-Jährige, der 18 Jahre zuvor auf verwegene Weise aus dem Gefängnis der venezianischen Staatsinquisition (den »Bleikammern« unter dem Dach des Dogenpalastes) ausgebrochen war, mit Erlaubnis des Senats in seine Heimatstadt zurückkehrt. Nach dem ursprünglichen Plan sollte die Lebensdarstellung bis 1797 reichen, also bis in die glanzlose Gegenwart des Schreibers, die den ganzen Bericht hindurch immer wieder zu schmerzlichen Reflexionen Anlass gibt.

Casanova bringt es vom lernbegierigen und begabten Schüler zum Lizentiaten und Doktor beider Rechte. Vom Kardinalsekretär in Rom, dessen aussichtsreiche Karriere durch ein Missgeschick abgebrochen wird, wechselt er zum galanten Paradeoffizier, vom Theatergeiger zum Kabbalisten und Protegé einflussreicher Senatoren, vom halbkriminellen Libertin und Spieler zum Edelmann, Salonlöwen und Dichter in Paris, vom Staatsgefangenen der Republik Venedig zum Lotterieeinnehmer des französischen Königs, zum Unterhändler Frankreichs bei Devisentransaktionen in Holland und hochstaplerischen »Eingeweihten« einer reichen Okkultistin. Als er 1759 Paris verlässt und Savoyen, Südfrankreich, Italien und die Schweiz bereist, steht er – auch materiell – im Zenit seines bewegten Lebens. In London (1763–1764) überfällt ihn eine Ahnung der bevorstehenden Lebenswende. Sein weiterer Weg, der ihn über Berlin, Petersburg, Moskau, Warschau, Wien, Paris, Barcelona, Madrid, Florenz nach Triest führt, wo ihn die Begnadigung aus Venedig erreicht, ist tatsächlich zusehends von geringerem Erfolg begleitet.

Casanovas Lebensgeschichte ist in kulturhistorischer Hinsicht von einer schier unerschöpflichen Ergiebigkeit, da sie ein monumentales Fresko des politischen und gesellschaftlichen Lebens des Zeitalters vor der Französischen Revolution darstellt. Republik und Stadt Venedig erscheinen hier am Ende der Epoche der politischen Unabhängigkeit, in einer Zeit des allmählich verlöschenden Glanzes. Mit ihren Theatern und ihrer hoch angesehenen Prostitution sind sie jedoch ein Lustbarkeits- und Amüsierzentrum von europäischem Rang. Neben kleineren Lokalbildern liefert Casanova auch von anderen bedeutenden Städten treffende Skizzen der jeweiligen Lebensgewohnheiten und Regierungen.

Die namhaftesten Männer und Frauen der Zeit, deren Bekanntschaft der gesellschaftlich gewandte Abenteurer machte, werden lebensnah vorgestellt: die Päpste Benedikt XIV. und Clemens XIII., die Kardinäle Acquaviva und de Bernis, Kaiserin Maria Theresia, König Ludwig XV., Friedrich der Große, die Zarin Katharina II., König Georg III., Madame Pompadour, Voltaire, Crébillon d. Ä., Fontenelle, d‘ Alembert, Rousseau, Haller, Winckelmann, S. Johnson, da Ponte, Metastasio, B. Franklin sowie die gefeiertsten Schauspieler und Sänger, Mätressen, Kurtisanen und Abenteurer (unter ihnen Cagliostro und Graf Saint-Germain), die gleichermaßen um die Gunst der Höfe und Salons wetteifern. Die Porträts leben von bizarren, scheinbar nebensächlichen Details, die das wahre Wesen dieser Persönlichkeiten oft plastisch hervortreten lassen.

Der erotische Bereich dieser Memoiren, der nach wie vor ihren und Casanovas Ruf zu Unrecht begründet, nimmt sich verglichen mit der Breite der Zeitbilder verhältnismäßig schmal aus. Zwar bekennt der allen Genüssen zugeneigte und mit außergewöhnlicher Virilität ausgestattete Lebemann unumwunden: »Die sinnlichen Genüsse zu kultivieren, bildete die Hauptbeschäftigung meines ganzen Lebens; niemals hat es für mich etwas Wichtigeres gegeben.« Doch ist dieses Bekenntnis eher als Ausdruck der sensualistischen Weltauffassung des zu Ende gehenden galanten Zeitalters zu sehen. Casanova zeigt sich nirgends pervertiert, selten zynisch, kaum gewalttätig oder lasziv. Die Frauen, die sich ihm hingeben, vergisst er auch nicht, wenn er sich längst von ihnen abgewandt hat, oft sorgt er für ihre materielle Zukunft und die ihrer Kinder. Casanova liebt die Frauen um ihrer selbst willen, instinktiv und ohne Hintergedanken. Nur in der Ekstase, zu der er sie »verführt«, kann er selbst höchstes Glück empfinden. Hat er es auch in schnellem Wechsel mit den verschiedenartigsten Partnerinnen aus allen Schichten zu tun (die mit geradezu entwaffnender Unbefangenheit ausgebreiteten Einzelheiten sind kulturgeschichtlich ebenfalls höchst bedeutsam), verliert er dennoch nie aus den Augen, was er in der Liebe eigentlich sucht: die vollendete seelisch-körperliche und »sympathetische« Harmonie. Zwischen zahlreichen Affären finden sich immer wieder Liebeserlebnisse von außergewöhnlicher Zartheit und überraschender Aufrichtigkeit.

Doch mit den Jahren werden solche Begegnungen seltener, dem Gealterten schließlich bleibt nur die Erinnerung: »Selige Augenblicke, die ich nicht mehr erhoffen darf, deren teure Erinnerung mir aber nur der Tod allein rauben kann!«
Aus literarhistorischer Sicht steht Casanovas Werk in der Nähe der autobiographischen Schriften eines Rousseau, Beaumarchais und Restif de la Bretonne. Doch war es von Anfang an starken Zweifeln hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit ausgesetzt, da die verwendeten Dokumente unmittelbar nach der Niederschrift vernichtet wurden. Erst neuere Forschungen erbrachten die Beweise für die Authentizität, der manche Irrtümer und Verwechslungen keinen Abbruch tun. Dies schließt nicht aus, dass der Autor, ungeachtet aller Bemühungen um Aufrichtigkeit, nicht auf eine gewisse Stilisierung seiner Person verzichtet hat.

Die Histoire de ma vie enthält in Anlehnung an den Schelmenroman klar erkennbare pikarische Elemente (Antiheroismus, Antiidealismus, die Rolle des Zufalls und des Glücksspiels, Optimismus und Selbstvertrauen des Helden, der schnelle Wechsel der Affekte, Welt als »Welttheater«). Als Bekenntnis individuellen Scheiterns wird das Werk so zugleich satirischer Zeitspiegel. Casanovas nüchterner, bald räsonierender, bald allegorisierender Stil ist ein mit Venezianismen durchsetztes Französisch, das – ganz im Gegensatz zur Eleganz des Autors – eher spröde wirkt, aber gerade dadurch am deutlichsten den Aufklärer durchscheinen lässt. Einerseits weist sich der Autor als Produkt seiner Zeit, des ausgehenden Ancien régime, aus, andererseits bedeutet dies bei ihm keinen Widerspruch zu einem tief verwurzelten Gottvertrauen, einer unbekümmerten Selbstsicherheit und nichtfatalistischer Schicksalsergebenheit. Mit der Revolution, deren gesellschaftliche Berechtigung er nicht anzweifelt, sieht er das Ende einer Ära anbrechen, die mit ihrem Glanz und ihrer Korruption letztlich den idealen Nährboden für seine eigene abenteuerliche Existenz bildete.

Bei aller Kritik fand Casanovas Werk immer wieder offene Bewunderer, wie Tieck, Heine, Taine, Hofmannsthal, Stefan Zweig, F. G. Jünger. Von Hebbel stammt vielleicht die prägnanteste Würdigung: »Wer noch im 68sten Jahre so schreiben konnte, der durfte so leben.«• Lit.: F. Serra: C. autobiografo, 2001. • C. Cave: Le moi, le monde, 2002.Richard Mellein

Zur Person: Giacomo Girolamo Casanova:

geb. 2.4.1725 Venedig (Italien)gest. 4.6.1798 Schloss Dux/Böhmen (Tschechien)Studium der Theologie und Rechte in Padua, Promotion mit 16 Jahren; 1755 in Venedig wegen Ketzerei in Haft, 1756 Flucht; 1757 Lotteriedirektor in Paris; 1763 Ablehnung einer Erzieherstelle im Kadettenkorps bei Friedrich II.; Kontakt zu Voltaire und Albrecht von Haller; 1774 Geheimagent des Dogen in Venedig; 1785 Bibliothekar des Grafen Waldstein in Dux; zahlreiche naturwissenschaftliche, theologische und philosophische Arbeiten sowie eine italienische Übersetzung der Ilias.

Mehr zum neuen Kindler unter www.derkindler.de

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