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Alexander Braun: Das Buch der Zukunft

Nachdem das gedruckte Buch als Inbegriff des Kulturguts noch vor kurzem als unersetzlich galt und damit gegen die Umbrüche in anderen Mediensegmenten gefeit zu sein schien, haben nur zwei Jahre zu einem tiefgreifenden Sinneswandel geführt. Zwei Jahre, in denen der E-Reader Kindle von Amazon auf dem Markt war und höhere Erstjahresverkaufszahlen erzielte als der „Musikindustrie-Killer“ iPod (techcrunch.com). Zwei Jahre, in denen Amazon – dem Beispiel von Apples iTunes folgend – zunächst einen einfachen, vergleichsweise niedrigen Preis für alle E-Books von 9,99 Dollar durchsetzte (bloomberg.com). Dieser wurde mittlerweile von Wal-Mart auch für Hardcover-Ausgaben gematcht: Bestseller sind dort nun für 8,99 Dollar zu haben (nytimes.com). Trotz des noch geringen Marktanteils von E-Books hat Amazons E-Book-Preisgestaltung somit zu einem Preiskampf geführt, der schon heute über das E-Book-Segment hinausreicht und gewohnte Branchenstrukturen grundsätzlich in Frage stellt.

Anfang vom Ende – oder Ende vom Anfang?

Während John Grisham das gedruckte Buch mittlerweile für eine bedrohte Spezies hält (today.msnbc.msn.com) und der Roman nach Philip Roth in 25 Jahren so populär sein wird wie lateinische Poesie heute (guardian.co.uk), würde John Irving als heute lebender junger Autor direkt mit dem Gedanken spielen, sich umzubringen (bigthink.com).

Ist die Digitalisierung des Buchs und der mit ihr einhergehende Strukturwandel somit der Anfang vom Ende oder läutet sie eine ganz neue Epoche für gelesene Inhalte ein, die die Grundlage für das Überleben des Buchs bildet? Wie wird das Buch der Zukunft aussehen?

E-Book-Umsätze: höher als erwartet

Obwohl Amazon grundsätzlich keine detaillierten Zahlen zu Kindle und E-Books veröffentlicht, wusste Jeff Bezos unlängst einen Umsatzanteil von 35% bei Verfügbarkeit der E-Book-Version zu berichten (businessinsider.com). Auf Jahresbasis haben sich die E-Book-Umsätze von Random House im September 2009 von 2,9 Mio auf 22,6 Mio Dollar mehr als versiebenfacht, wobei darin sicherlich auch der Sondereffekt der Publikation von Dan Browns neuem Bestseller enthalten ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass E-Books in den USA bereits in diesem Jahr einen Umsatzanteil von gesamthaft zwischen 1,5% (foxbusiness.com) bis 5% (teleread.org) erreicht haben (in Deutschland liegt der Anteil von E-Books bei etwa 1%).

Revolutionen verlaufen nicht linear

Der derzeit zwischen Amazon und Wal-Mart ausgetragene Preiskampf zeigt jedoch deutlich, dass die Auswirkungen auf existierende Industrien und ihre Strukturen bereits schon dann tiefgreifend sein können, wenn der tatsächliche Umsatzanteil noch im einstelligen oder niedrigen zweistelligen Prozentbereich liegt. Dass diese Effekte auch in Deutschland trotz der Buchpreisbindung, die einen vergleichbaren Preiskampf verhindert, nicht linear sein werden, wird bei der Betrachtung der Auswirkungen von E-Books auf den stationären Buchhandel klar: für den Kauf von E-Books braucht der Kunde kein Ladenlokal. Führt also ein noch im einstelligen Prozentbereich liegender Anteil von E-Books in Verbindung mit anderen Brancheneffekten zu einem Rückgang der über den stationären Buchhandel abgewickelten Umsätze von 10%, können die meisten Händler schließen. Dies verstärkt wiederum die Markmacht eines dominanten Online-Players wie Amazon, der jedes Interesse daran hat, den Anteil von E-Book-Verkäufen zu erhöhen und die Wertschöpfungskette sukzessive vertikal zu integrieren (slate.com, buchreport.de, wsj.com,  
crainsnewyork.com).

Verlage: Fehler der Musikbranche wiederholen?

Kein Wunder also, dass der Handlungsdruck exponentiell gestiegen ist. Die Antworten auf diese Entwicklungen und der bislang zu beobachtende Mangel an Experimentierfreude hinsichtlich neuer Modelle erlauben allerdings keine optimistischen Prognosen. Klar ist, dass

  • alles, was digitalisiert werden kann auch digitalisiert werden wird (ob mit oder ohne Zustimmung der Rechteinhaber);
  • alles, was digitalisiert ist beliebig und kostenlos vervielfältigt werden kann (ob mit oder ohne Schutzmechanismen wie DRM ausgestattet);
  • die kostenlose Vervielfältigung zunehmend zu einer kostenlosen Verbreitung der Inhalte und zu einer Explosion der Zahl der Anbieter führt und die von den Nutzern der Inhalte akzeptierten Preise infolgedessen zunehmend Richtung der Grenzkosten einer digitalen Kopie tendieren – Null.

Vor diesem Hintergrund werden gebetsmühlenartig unter dem Titel „Von der Musikindustrie lernen“ diverse, meist ratlose Expertenpanels bemüht. Allen Ernstes werden dort Modelle wie elektronische Online-Bibliotheken diskutiert, in denen – man lasse es sich auf der Zunge zergehen – gerade ausgeliehene elektronische Bücher bis zum Ablauf der Ausleihfrist für alle anderen Interessenten nicht verfügbar sind. Das Potenzial elektronischer Inhalte, einen Zugang ohne räumliche und volumenmäßige Beschränkung nahezu kostenlos zu ermöglichen, wird ad absurdum geführt. In einer analogen Welt war es teuer und komplex, Inhalte möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Lösungen für dieses Zugangsproblem zu liefern ist daher die Geschäftsgrundlage von Medienunternehmen. In einer digitalen Welt ohne die gewohnten Beschränkungen ist die Bewahrung des Problems somit für sie zum ökonomischen Imperativ geworden. Fazit: man schließt messerscharf, dass nicht sein kann was nicht sein darf. Dass dies im digitalen Zeitalter weder möglich noch gesellschaftlich (ted.com) oder ökonomisch (ivir.nl) wünschenswert ist, hat die Musikindustrie demonstriert: DRM, überzogene Preisvorstellungen für digitale Dateien, proprietäre Formate und juristische Verfolgung wurden ad acta gelegt, attraktive legale Alternativen geschaffen.

Trotzdem ist bislang die verbreitete Strategie der Buchbranche, DRM mit proprietären Formaten (vor allem von Amazon forciert), überhöhten Preisen (leanderwattig.de) und juristischer Verfolgung illegaler Downloader zu verknüpfen, mit der der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander Skipis „die Gerichte mit Tausenden von Verfahren beschäftigen“ möchte (spiegel.de). Auch wenn verständlich ist, dass man nicht allzu vorschnell Gefahr laufen möchte das etablierte Kerngeschäft zu kannibalisieren, kann es keine Lösung sein, sich wie die Musikindustrie zum Getriebenen zu machen und jeden Fehler konsequent zu wiederholen.

Neue Modelle zur Monetarisierung digitaler Inhalte (buchreport.de) sind also ebenso gefragt wie die grundsätzliche Innovation des Produktes Buch (wsj.com). Bislang stehen wir noch auf der Stufe der 1:1-Replikation des Buchs in die elektronische Welt, ohne die tatsächlichen Potenziale dieses Transfers – die soziale Dimension, die Vernetztheit der Lesegeräte – zu nutzen.

Musikindustrie – gewachsen, nicht geschrumpft

Lernen kann man von der Musikindustrie vor allem eines: all die defensiven Maßnahmen haben weder den Niedergang der Musiklabels verhindert noch zu den mit digitaler Verbreitung und Piraterie assoziierten Horror-Szenarien geführt, die den Niedergang alles künstlerischen Schaffens aufgrund rückläufiger Verkäufe von Tonträgern prognostizierten – im Gegenteil. Obwohl die Musiklabels dramatisch schrumpfende Umsätze zu verzeichnen hatten, sind die Ausgaben für Musik nicht zurückgegangen, sondern sogar gestiegen (techdirt.com): Musikfans geben heute für Konzerte zusätzlich mehr aus, als sie beim Einkauf von Musik auf Tonträgern eingespart haben. Somit bleibt bei den Musiklabels weniger hängen, obwohl der gesamte Kuchen „Musikindustrie“ jedoch gewachsen ist.

Sicherlich lassen sich diese Erfahrungen nicht 1:1 auf die Buchbranche übertragen: selbst eine J.K. Rowling wird auf einer Lesetournee nicht stadienfüllend Fans mit vergleichbarer Zahlungsbereitschaft für eine öffentliche Lesung begeistern können, wie dies den Rolling Stones oder U2 möglich ist. Die in der Musikindustrie zu beobachtende Verschiebung der Umsatzquellen hält jedoch eine Reihe von Lösungsansätzen für die Buchbranche bereit, die auch schon erfolgreich von der PC-Spieleindustrie realisiert wurden. Diese sah sich mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert: PC-Spiele konnten selbst mit aufwändigen Kopierschutzmechanismen nicht wirksam gegen illegale Vervielfältigung und Verbreitung geschützt werden und die Industrie schätzte ihre Verkaufsverluste durch Piraterie auf 50-90% (news.bbc.co.uk).

Vom statischen Produkt zum Service

So wie Konzerte Zugang zu einem nicht kopierbaren sozialen Gemeinschaftserlebnis mit durchsetzbarer Zugangsbeschränkung ermöglichen, haben PC-Spiele wie World of Warcraft durch ein nicht kopierbares soziales Gemeinschaftserlebnis über einen kontrollierbaren Online-Zugang auf Abo-Basis zu Umsätzen in Milliardenhöhe geführt (tweakguides.com).

E-Books ermöglichen einen ähnlichen Prozess: die Kombination des Leseerlebnisses mit einem Rückkanal, der den Austausch mit anderen Lesenden oder sogar mit dem Autor erlaubt. Leser können direkt im Text hinzugefügte Annotationen oder Verweise ihrer Freunde oder aller Leser des jeweiligen Buches abrufen, bestbewertete Passagen einsehen, eigene Anmerkungen, Betrachtungen und Verknüpfungen zu anderen relevanten oder erklärenden Dokumenten hinzufügen. Das Buch kann multimedial angereichert sein mit Autoreninterviews, Erläuterungen und Animationen, die insbesondere bei Sachbüchern einen Mehrwert schaffen. Auf diese Weise erhalten Leser nicht nur die beliebig ersetzbare kopierbare Datei, sondern einen lebendigen, über den Zugang kontrollierbaren Austausch mit Gleichgesinnten, Freunden, Autoren und Experten, der echten Zusatznutzen gegenüber dem statischen Dokument bietet.

Sicher wird die Zahlungsbereitschaft für diese Anreicherung des Produkts zwischen Sachbüchern und Belletristik variieren, in beiden Bereichen jedoch eine Vielzahl von Zahlungsmodellen ermöglichen. Grundsätzlich gratis verfügbare erste Kapitel können ein effektives Marketinginstrument sein, das mit einem niedrigen Preis für das gesamte E-Book kombiniert werden kann. Diesem Preis werden durch die Flut von illegalen Angeboten enge Grenzen gesetzt sein. Von dieser Schwelle aus kann jedoch ein Upselling in die interaktiven, das Buch anreichernden Komponenten stattfinden. Das heute als Endpunkt der Vermarktung angesehene illusorisch überteuerte Produkt E-Book wird damit zum Ausgangspunkt für den Verkauf von Services und Zusatzleistungen.

Wie Cory Doctorow schon richtig bemerkte gilt im Zeitalter kopierbarer elektronischer Dateien umso mehr: „Content isn’t king – conversation is king. Content is just something to talk about.” (boingboing.net) Diese wichtige Lehre sollte man bei der Neukonzeption des Buchs im Hinterkopf behalten.

Alexander Braun, früherer Online-Direktor bei der Bertelsmann-Tochter Doubleday Canada, ist Gründer der Bücher-Community quillp.

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