Debüt des Monats

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Lea Draeger

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Was hat den Anstoß für diesen Roman gegeben?

In den letzten Jahren habe ich mich ziemlich viel mit Familiengeschichten beschäftigt und bin dabei immer auf dieses Schweigen gestoßen. Weggedrücktes und Verdrängtes, das sich gleichzeitig von Generation zu Generation fortsetzt. Ich finde es notwendig, dieses Schweigen zu brechen. In meinem Roman erzähle ich die Geschichte einer Großmutter, einer Mutter, und einer Enkelin, alle drei sind sowohl Opfer patriarchaler Gewalt als auch Täterinnen. Wut wird unterdrückt, Unrecht ertragen und versucht, es durch Glaubenssätze zu legitimieren. Die Enkelin stellt sich der Familiengeschichte, und dem, was unter dem Schweigen liegt. Sie beginnt darüber und dagegen anzuschreiben. Denn bis dahin hat immer der Großvater, der unveröffentlichter Schriftsteller war, die Geschichte der Familie geschrieben und dabei vieles verschwiegen. Es ist so wichtig zu sprechen. Und die Wut nicht gegen den eigenen Körper zu richten, sondern gegen die Strukturen, die ihn an seine Grenze bringen.

Wie viel von Ihnen steckt in der Geschichte?

Für die Arbeit an diesem Stoff, habe ich sowohl Aspekte meiner eigenen Familiengeschichte untersucht als auch viel fremdes Material eingearbeitet. Ich habe ziemlich viel zugehört, vor allem Mädchen, die nicht mehr essen können und oder wollen und beginnen, ihren Körper aufzuschneiden. Oder mit dreizehn Jahren sterben wollen. Ein Teil des Buches spielt ja in der Kinderpsychiatrie. Das Zuhören und Schreiben hat mich schon manchmal an meine Grenze gebracht. Aber es sind Themen, über die wir in aller Härte reden müssen.

Für welche/n Leser/in ist dies das richtige Buch?

Das Buch rückt die Frauen in den Fokus. Ich denke, dass es viele Lesende, vor allem Frauen und queere Menschen, interessieren könnte, gerade, wenn sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigen, wie viele von uns es in den letzten Monaten getan haben. Vielleicht weil wir uns nicht treffen konnten, weil in Familien vermehrt Konflikte zutage traten. Ich habe aber auch schon mit einigen Männern geredet, die der Text sehr beschäftigt hat.

Wer ist Ihr literarisches Vorbild? Oder: Welches Buch/welcher Autor hat Sie beeinflusst?

Ich habe kein wirkliches literarisches Vorbild, aber es gibt einige Autor:innen, die ich ich seit vielen Jahren großartig finde. Zum Beispiel habe ich mich mit fünfzehn Jahren in die Texte von Kafka verliebt, und das hält immer noch an, ebenso die Liebe zu Simone de Beauvoir.

Warum haben wir dieses Debüt ins Programm genommen?

Lea Draegers großer Roman erzählt von einer jungen Frau, die sich von allem, was sie zurückhält, freimacht: Sprachlosigkeit und Traumata, Körperbilder und Kontrolle, Patriarchat und Glaube. Die Sprache entfaltet eine rohe Wucht, zugleich entstehen viele zarte, schöne Momente, vor allem zwischen jungen Frauen. Ein absolut singulärer Text. Ulrike v. Stenglin, Verlagsleiterin hanserblau

Lea Draeger: Wenn ich euch verraten könnte
Roman; 288 Seiten; 23,00 €
978-3-446-27286-6
ET: 24. Januar 2022; hanserblau

Leseprobe

Wenn ich euch verraten könnte

Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine. Die Füße schwebten über dem Arbeitstisch. Er schaute starr von oben hinunter auf sein Kind.

Mein Großvater hob den Stuhl, der umgestoßen auf dem Boden lag, auf den Tisch und stieg hinauf. Er fasste das Becken seines Vaters, umschlang seinen Bauch. Er hing am Bauch seines Vaters, versuchte sich zur Brust hochzuziehen, in den Blick des Vaters, und gleichzeitig den Vater hinunterzuziehen, in seine Arme, mit denen er den Vater umklammerte. Die Hundeleine gab nicht nach, sie schnitt nur immer tiefer in den Hals. So balancierte mein Großvater mit den Zehenspitzen auf dem Stuhl, den toten Körper seines Vaters umschlungen, an ihm zerrend, bis seine Kraft zu schwinden begann. Mein zwölfjähriger Großvater blieb stumm. Über ihm stand das Schweigen des toten Vaters. Er kam nicht darauf, um Hilfe zu schreien, nach seiner Mutter, die eine Etage höher die kleine Schwester fütterte.

Erst als sie hinunter in die Backstube stieg, um Vater und Sohn Kirschen für das Gebäck zu bringen, sah sie den toten Vater an der Decke und unter dem Vater das Kind. Der Oberkörper des Kindes hing still unter seiner Brust, während die Zehenspitzen schwankend um das Gleichgewicht kämpften. Auch die Mutter schrie nicht. Auch sie blieb stumm.

Mein Urgroßvater muss gewusst haben, dass ihn sein Sohn finden würde. Sein Körper war noch warm.

Am frühen Morgen hatten sie gemeinsam den Brotteig geknetet. Dann war der Sohn in die Schule aufgebrochen. Nach dem Unterricht ging er wie immer in die Backstube, um den Teig für die Gebäckstücke zu kneten. Er stellte seine Schultasche neben die Tür, holte die Schüssel mit dem vorbereiteten Teig aus der Kammer und ging zum Tisch. Als er den Vater an der Decke sah, fiel ihm die Schüssel hinunter. Der Teig rollte über den staubigen Boden und färbte sich schwarz. Instinktiv duckte sich das Kind vor den Schlägen, die es erwartete.

Mein Urgroßvater verabschiedete sich weder von seiner Frau noch von seinen Kindern. Das Einzige, was er hinterließ, war ein halber karierter Zettel, auf dem in kleinen, ordentlichen Buchstaben geschrieben stand: Ich verabschiede mich von der Welt wegen der schlechten Geschäfte und der Unmöglichkeit, mit meiner Frau zu leben. Ich bitte darum, meine fünf Kinder in staatliche Obhut zu geben. Ich möchte nicht in meiner Heimatstadt Mistek in Mähren begraben werden.

Meine Urgroßmutter fand den Zettel unterhalb der Füße meines toten Urgroßvaters auf dem sauberen Arbeitstisch. Nachdem sie ihn gelesen hatte, faltete sie ihn zusammen und steckte ihn in die Brusttasche ihrer Kittelschürze. Sie würde ein Leben lang über den Zettel schweigen. Die Scham und die Ohnmacht hingegen, die die Sätze in sie eingeschrieben hatten, würde sie nie wieder loswerden.

Nach dem Selbstmord des Vaters wurde der Sohn, mein Großvater, zum Vater. Mein Großvater war das erste von fünf Geschwistern. Seine beiden großen Brüder Tomáš und Petr waren im Wochenbett verstorben.Nach meinem Großvater kam Draghomír, danach die Schwester Boba. Pavel und Eva überlebten die ersten Monate nicht. Es folgten die beiden Kleinsten, Ljudmila und Jindřiška. Jindřiška starb mit drei Jahren …

Der Vater, mein Großvater Jiří, ist vor einigen Jahren an seinem Herzen gestorben. Es hatte ihm immer Probleme gemacht. Nach wenigen Metern am Stock ging sein Atem keuchend. Ich hörte das Keuchen, noch ehe ich meinen Großvater mit gebücktem Rücken und kleinen Schritten herannahen sah. Neben seinem Herzen war auch sein Rücken gebrochen. Seitdem ich mich erinnern kann, lief er mit gekrümmtem Rücken am Stock und keuchte. Er setzte den Stock ein Stück nach vorne und zog seine Beine hinterher. Die Füße schleiften über den Boden.Jeder Schritt eine Attacke von altem und von neuem Schmerz. Nach fünf Schritten machte er eine Pause, senkte den Kopf und keuchte in den Boden.

»Das Land, aus dem er kommt, hat ihm den Rücken gebrochen und das Herz zerstört«, sagte meine Großmutter. In meiner Familie sprechen alle sehr viel und laut. Über sich selbst reden sie nur, wenn es um ihre Errungenschaften geht. Von Niederlagen erzählen sie, wenn es nicht die eigenen, sondern die der anderen Familienmitglieder sind. Daher weiß ich fast alles über sie von anderen und nicht von ihnen selbst. Denn das Leben meiner Familie besteht hauptsächlich aus Niederlagen. Und dann gibt es viele Dinge, über die gar nicht gesprochen wird …

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