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Zoë Beck: Die Angst vorm Lese-Algorithmus

Zoë Beck: Die Angst vorm Lese-Algorithmus

– Zurzeit geht mal wieder das Abendland unter, mindestens. Das hat irgendwie mit Amazon zu tun und irgendwie auch mit eBooks und irgendwie ganz bestimmt etwas mit Umbrüchen und Veränderungen, die als unbehaglich empfunden werden. Und vor allem als so was von neu und nie dagewesen. Es gruselt aus den verschiedensten Ecken, und paradoxe Fronten entstehen. Zoë Beck räumt ein bisschen auf.

„Wenn es nämlich gelingt, was wahrscheinlich Amazon vorschwebt, über die Daten, die sie über ihr Vertriebssystem, erst recht über E-Book bekommen, sozusagen dann auch gewissermaßen Literatur produzieren zu lassen, die genau den festgestellten Kenntnissen, Wünschen der Leser entspricht, dann bedeutet das auch eine wirkliche Verarmung unserer Buchkultur.“

Im Interview mit dem Deutschlandfunk hat Wolfgang Thierse die Befürchtung geäußert, dass es bald nur noch Bücher geben wird, die den Wünschen der Lesenden entsprechen, was zwingend zur geistigen Verarmung führt. Okay, wir wissen alle, wie er das gemeint haben dürfte. Aber es klingt schon ein wenig danach, als sollte man den Lesenden besser nicht das geben, wonach sie verlangen.

Grund genug, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, was es mit diesem neumodischen AlgorithmusTM (estd. 825 n.u.Z.) auf sich hat, der Leserwünsche bedienen will. Was kann dabei herauskommen? Zum Beispiel – und das muss ich mir jetzt wild ausdenken –, dass die Lesenden kurze Kapitel lieber mögen als lange. Oder dass die ideale Gesamtlänge eines Buchs 284 Seiten beträgt. Oder dass Protagonisten, die männlich, weiß, schwarzhaarig, grünäugig, 42 Jahre alt und von Beruf Staranwalt sind, am besten funktionieren. Auf Seite 30 sollte spätestens der erste sexuelle Kontakt beschrieben sein, und vorher müsste mindestens einmal Blut geflossen sein. Pro altmodischer Normseite sind dreißig Adjektive angemessen. Eine Liste mit den beliebtesten Vor- und Nachnamen sowie Schauplätzen könnte man ebenfalls erstellen.

Schlag nach bei Shakespeare

Noch bevor es Amazon-Algorithmen gab, die auf Rückschlüssen aus dem Leseverhalten der eBook-Kund*innen basierten, machten sich Menschen Gedanken darüber, was andere Menschen möglicherweise lesen – oder auch anschauen – wollen. Ich weiß, das klingt jetzt schrecklich und ist für viele ein Schock, aber sogar Shakespeare und seine Theatergruppe dachten darüber nach. Sie hatten seinerzeit nämlich recht harte Konkurrenz: Wer sich mit seinem Tageslohn in die Vergnügungen außerhalb der Stadtmauern stürzte, hatte die Wahl zwischen Prostituierten, Bärenhatz, Glücksspiel und – Theater.

Anders als heute saß man nicht in geordneten Stuhlreihen und starrte still auf die Guckkastenbühne. Die elisabethanische Bühne ragte weit in den Zuschauerraum, und um die Bühne herum waren die billigen Plätze. Man stand dort. Man war laut. Man brüllte nach Unterhaltung. Wehe, es war nicht spannend. Oder wenigstens lustig. Oder irgendwie ergreifend. Es musste bitteschön immer was los sein, sonst gab es Gemecker. Live-Kritik. Shakespeare bekam das offensichtlich ganz gut hin. Selbst heutzutage haben die Allermeisten wenigstens schon mal von ihm gehört. Ein prominentes Beispiel für einen Autor, der sehr viel Wert auf die Meinung der Lesenden gegeben hat, ist natürlich auch Charles Dickens. Man schätzt, dass er zu Lebzeiten gut anderthalb Millionen Lesende erreichte, dazu noch eine schwer zu schätzende, aber vermutlich hohe Zahl an Analphabeten, die sich seine Fortsetzungsromane Monat für Monat vorlesen ließen. Dickens ging darauf ein, wenn sein Publikum nicht wollte, dass jemand starb oder böse war oder sonst was. Trotzdem schaffte er es, seine gesellschaftlich relevanten Inhalte zu transportieren und Weltliteratur zu werden und zu bleiben. Sir Arthur Conan Doyle musste (wegen Erfolgsdruck!) Sherlock Holmes wiederauferstehen lassen.

Der Markt

Da waren sie schon immer, die Autorinnen und Autoren, die schrieben, was das Publikum lesen wollte, wonach der Markt verlangte. Sie taten es in unterschiedlicher Qualität und mit unterschiedlichem Ruhm. Und immer gab es die, die sich einen feuchten Dreck darum scherten und machten, was sie wollten, ob es jemandem da draußen erst mal gefiel oder nicht. Das funktionierte manchmal gut, manchmal gar nicht, manchmal erst nach ihrem Tod.

Verlage, übrigens, orientierten sich logischerweise auch schon immer am Publikumsgeschmack. (Und auch da gab es immer schon die anderen, die nicht auf die Masse, sondern auf ihre eigenen, idealistischen Vorstellungen setzten.) Man orientierte sich an dem, was Kritiker schrieben. Oder was die Verkaufszahlen diktierten.

Wovon dieser Tage kaum mehr jemand spricht, ist der Schaden für die literarische Vielfalt, den die großen Buchketten mit ihrer Einkaufspolitik angerichtet haben. Kleine Verlage, die schon immer dafür gesorgt haben, dass die literarische Vielfalt blühen und grünen und sprießen kann, haben dort kaum eine Chance, in die Regale oder gar auf die Tische zu wandern, wenn nicht engagierte Buchhändlerinnen und Buchhändler vor Ort die einzelnen Titel bestellen und ausstellen. Das Allermeiste wird vom Zentrallager diktiert. Die zuständigen Einkäufer sprechen mit den Key Accountern der jeweiligen Verlage. Die wiederum haben ihre Spitzentitelkataloge, die schon mal deutlich dünner sind als die Kataloge, die der Sortimentsbuchhandel bekommt. Und die Spitzentitel orientieren sich an dem, was die Einkäufer wollen. Sie warten erst gar nicht, was ihnen vorgeschlagen wird. Sie machen ihre Ansagen. Vampire laufen gut. Bitte mehr Vampire. Ach nee, jetzt laufen die nicht mehr, lasst das mal, macht doch mal mehr was mit Zwergen. Oder Serienkiller, aber dann keine Blondinen mehr töten, die sind jetzt durch. Gefolterte Jungfrauen sind gerade ziemlich gut im Geschäft. Macht ihr das Cover mal anders, ockertöne sind derzeit schwer im Trend. Geht das bitte mit einer anderen Schriftart. Bitte Einworttitel. Bitte keine Einworttitel mehr.

Die Autorinnen und Autoren

Die Verlage geben es weiter an uns, die wir die Bücher schreiben. Wir machen mit, weil wir überleben wollen und müssen. Wir wechseln das Genre, wir schreiben um, wir halten uns an Vorgaben. Manchmal macht uns das richtig viel Spaß. Manchmal bekommen wir davon Magengeschwüre.

Oder wir riskieren es, halten uns nicht dran, fallen auf die Nase und gehen wieder kellnern.

Vielleicht setzen wir aber auch einen neuen Trend und werden reich oder berühmt oder beides.

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind aber so verunsichert, dass sie selbst gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich schreiben wollen. Die Frage: „Was soll ich denn mal schreiben?“ wird immer öfter gestellt. Und Frank Göhre antwortete bei Krimis machen 2 darauf mit einem donnernden: „Ich verstehe nicht, warum jemand, der nichts zu sagen hat, ein Buch schreiben will.“

Ein Glücksfall, wenn das, was man selbst total super findet, auch dem entspricht, was alle anderen wollen. Vom Anfang bis zum Ende der Verwertungskette.

Was die Lesenden wollen, sagen sie einem schon lange, siehe oben. Sie schreiben Briefe an die Verlage, an die Autor*innen, heute schreiben sie öffentlich in Foren, in Blogs, auf Amazon, was ihnen gefällt und was nicht. Sie tun es in unterschiedlicher Form, manches hat die Qualität einer professionellen Kritik, vieles ist launig und emotional, und mal abgesehen von den Trollen und Hatern haben sie alle ihre Berechtigung. Und alles, inklusive der Trolle und Hater, hat es auch schon vor dem Internet gegeben, es hieß nur anders. Die Lesenden gehen sogar noch weiter. Sie schreiben selbst. Sie schreiben in Form von Fanfiction ihre Lieblingswerke einfach weiter. Oder um. Und häufig sind sie nicht nur Fan eines Werks, sondern eines Genres. Dann schreiben sie genau die Genrewerke, die sie selbst gern lesen würden. Und finden eigene Fans und Käufer.

Literatur als Dienstleistung

Liest man sich einige Blogs und Kundenbewertungen etwas analytischer durch, bekommt man den Eindruck, Literatur sei mittlerweile in weiten Teilen tatsächlich nur noch eine Dienstleistung. Da werden die Autor*innen aufgefordert, das nächste Mal doch dies und jenes anders, meint: besser zu machen. Da wird die persönliche Enttäuschung im Detail beschrieben. Da wird nicht mehr versucht zu verstehen, was die Schreibenden ausdrücken wollten, warum sie sich für bestimmte Themen, Figuren, Storyverläufe entschieden haben. Da wird nur noch gefordert. Bitte keine unangenehmen Überraschungen. Bitte ein Buch nach Maß.

Bitte an die Algorithmen halten.

George R. R. Martin zeigte seinen Fans daraufhin den Mittelfinger.

Überhaupt gab es in der Literaturgeschichte eine Menge Autor*innen, die ihren Verlagen, Kritikern, den Marktanforderungen den Mittelfinger gezeigt haben und gegen den Mainstream geschrieben haben. Die wird es auch weiterhin geben. Und sie werden auch weiterhin gelesen werden. Weil dann doch der hundertste Serienkiller nach Muster Y fad geworden ist, der Hunger gestillt ist. Dann wird der nächste Trend totgeritten und algorithmisiert. Sehr wahrscheinlich ist dieser neue Trend aus einem gezeigten Mittelfinger entstanden.

Der zweite Finger

Möglicherweise hat ihn auch jemand ausgerechnet und damit dann trotzdem eine Menge Menschen glücklich gemacht.

Der Massengeschmack wurde schon immer verpönt und verhöhnt. Der Massengeschmack wurde schon immer aufgrund von Algorithmen bedient. Der Massengeschmack fand schon immer das vom Massengeschmack Abweichende irritierend und absurd. Die Bestsellerformel wurde schon immer gesucht, nie gefunden. Selten hatte der am Reißbrett geplante Roman Megaerfolg, und wenn dann nur durch brutales Marketing. Die Lesenden wollen eben doch nicht immer nur dasselbe. Vielleicht eine Zeitlang, aber dann sind sie satt. Es wird immer Raum für Überraschendes und Neues und Gewagtes und Unerhörtes geben.

Wir alle haben nämlich im günstigsten Fall zwei Mittelfinger pro Person. Das dürfen wir nicht vergessen.

Zoë Beck ist Autorin (hier geht es zu ihrem Blog und zu ihrer Homepage hier) und Verlegerin des Digitalverlags CulturBooks (mehr hier)

Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und von culturmag.de.

Kommentare

2 Kommentare zu "Zoë Beck: Die Angst vorm Lese-Algorithmus"

  1. „Ich verstehe nicht, warum jemand, der nichts zu sagen hat, ein Buch schreiben will.“ Ich auch nicht.

  2. Die Amazon-Algorithmen verkürzen die Wege für die Abschreiber unter den Autoren immens. Wenn ich ein Papierbuch in Papier abschreiben will, dann dauert es mindestens eine Buchmessenlänge, mindestens. Bis dahin ist der Trend schon halb totgelesen. Früher.

    Das wird sich ändern. Amazon erfasst die Trends – selbst die entlegensten – und wird sie mit seinen Autoren oder Autorenteams direkt umsetzen können. Innerhalb von einem Monat (es findet ja kein ‚Druck‘ statt) wird der Titel 2.0 auf dem Markt sein – evtl. in entscheidenden Teilen näher am Publikum als das Original. Das ist die eigentliche Gefahr, die von der Amazon Flat für die nachgefragten Autoren ausgeht.

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