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Müßige Mitarbeiter – gut für Unternehmen

„Mut zur Muße“ – der Werbe-Claim eines Reisemagazins, das vor allem in älteren Arztpraxen ausliegt. Den Jüngeren ist dieser Mut weitgehend abhanden gekommen, stellt Forscher und Personaler Prof. Norbert Rohleder seit Jahren fest. Zum Schaden aller an der Produktion Beteiligten – auch der Unternehmen. Und fordert Arbeitnehmer wie Arbeitgeber zu der Kampfaufgabe auf, die Muße in die Betriebe zurückzubringen.

Dr. Norbert Rohleder ist seit 2012 Professor für Human Resource Management und Soziale Interaktion am Wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der Hochschule Mainz. Zuvor war er 16 Jahre in unterschiedlichen Personalfunktionen, zuletzt beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim tätig. Als praxiserfahrener HR-Manager und Autor zahlreicher Veröffentlichungen kennt er die theoretischen und unternehmenspraktischen Anforderungen an ein modernes Human Resource Management.

Entschleunigungs-Prediger gibt es viele. Was unterscheidet Sie von denen?

HR-Spezialist und Muße-Forscher Norbert Rohleder bei pubiz.deIch predige nicht. Ich gebe Managern und meinen Studierenden nur Impulse, diese aber auf der Basis von Fakten.

Könnten Sie „Muße“ mal definieren?

Für viele von uns ist Muße ein Begriff, der im aktiven Sprachgebrauch nichts mehr zu suchen hat und meist negativ besetzt ist.

Muße ist eine Phase des Nichtstuns, ein schöpferischer Vorgang als Ausgleich zur Arbeit, eine Zeit, in der wir das Gefühl haben, Herr über diese zu sein, die Konzentration auf sich selbst.

Muße ist auch eine kreative Pause des Geistes: Hirnforscher haben beispielsweise festgestellt, dass unser Gehirn immer wieder Phasen des Nichtstuns braucht, dass ein gewisser Leerlauf im Kopf für unsere geistige Stabilität sogar geradezu unabdingbar ist. Neurowissenschaftler der Universität St. Louis haben bereits 2001 eine Gruppe von Gehirnregionen entdeckt, die erst beim Nichtstun aktiv werden (als Default Mode Network bzw. Ruhezustands-Netzwerk bezeichnet). Wenn wir also faul im Gras liegen und dösen oder bei der Arbeit aus dem Fenster starren, denkt „es“ in uns wie ein Autopilot über Vergangenes nach und reflektiert. Und diese Zeiten braucht unser Gehirn. Muße ist damit kein Luxus, sondern pure Notwendigkeit.

Was mit Muße nicht gemeint ist: „aller Laster Anfang“, Abhängen vor dem Fernseher, Trägheit, Herumhängen, reines Konsumieren von Freizeitangeboten, etwas Spirituelles oder Esoterisches.

Aber wir sind doch fremdbestimmt – nicht nur am Arbeitsplatz, dort aber besonders. 

Nehmen wir mal das gern bemühte Bild vom Hamsterrad. Viele klagen, ihr Job sei wie ein Hamsterrad. Doch wer es sich genau ansieht, müsste eigentlich erkennen, dass es keinen Motor gibt und wir selbst die Drehzahl festlegen.

Woher kommt es Ihrer Meinung nach, dass Muße heute so einen schlechten Stand in der deutschen Gesellschaft hat?

Muße ist vielfach negativ besetzt, und das liegt vielleicht auch daran, dass wir ständig mobil sind, immer erreichbar und permanent aktiv. Das Gegenstück zur Muße ist ständige Betriebsamkeit, und das erleben wir im täglichen Handeln und Agieren. Muße und Nichtstun ist eine Kunst, die viele von uns verlernt haben. Viele von uns können es sich beispielsweise nicht mehr vorstellen, in der Arztpraxis, an Bushaltestellen und auf Behörden geraume Zeit mit Warten zu verbringen. Warten im Sinne von Nichtstun – gegen die Wand starren, in den Himmel schauen, Leute beobachten. Ausharren und sich in Geduld üben.

Ich habe das Gefühl, dass Warten in unserer deutschen (oder auch mitteleuropäischen) Form die dunkle Seite des Müßiggangs ist. Und je weiter wir nach Süden gehen, desto mehr wandelt es sich in Lebensqualität.

Zu viel Arbeit resultiert nicht nur aus dem Profitstreben?

Nein, zu viel Arbeit resultiert auch aus dem Zeitdruck, dem hohen Arbeitsvolumen, der hohen Arbeitsdichte, den geringen Gestaltungsmöglichkeiten, aus der gleichzeitigen Arbeit an mehreren Aufgaben, den häufigen Unterbrechungen und den komplexen Aufgabenstellungen. Es klingt fast paradox: Obwohl wir ständig neue Techniken zum Zeitsparen entwickeln, haben wir heute immer weniger Zeit. Und man fragt sich, wo die gewonnene Zeit geblieben ist.

Zeitmanagement-Ratgeber suggerieren, dass es sich bei der Arbeitsflut um ein individuelles Problem handelt, aber aus meiner Sicht ist es ein kollektives. Und der Pferdefuß unserer Zeitspartechniken ist, dass wir damit gar keine Zeit sparen, sondern nur unser Tempo erhöhen.

Aber den Takt in der Wirtschaft geben heute amerikanische und asiatische Tech-Riesen an. Europa hat es nicht mal in die Top 20 geschafft. Wo soll da die Luft für Muße bleiben?

Wenn es um Innovationen geht, um bedeutende technische Entwicklungen, um wissenschaftlichen Fortschritt, dann kann es schon sein, dass wir in Deutschland oder in Europa nicht mehr ganz vorne dabei sind. Und unbestritten haben sich Entwicklungszeiträume in den letzten Jahren in vielen Bereichen deutlich verkürzt. Doch auch wenn diese Taktvorgaben von außen vorgegeben sind, entscheidet jedes Unternehmen, in welcher Weise dieser Druck weitergegeben wird. Es ist schwer vorstellbar, eine kreative Idee zu entwickeln, wenn keine Zeit dafür vorhanden ist, ein Konzept zu durchdenken, wenn das Ergebnis „am besten schon gestern vorgelegt werden soll“. Luft für Muße bleibt letztlich nur dort, wo entsprechende Werte nicht nur in Hochglanzbroschüren festgehalten sind, sondern die Unternehmenskultur in allen Hierarchien gelebt wird.

„Muße für Manager“ fordern Sie in einem Ihrer Aufsätze – nur für diese?

Nein. Beispielsweise sind ständige Erreichbarkeit und permanente Mobilitätsbereitschaft heute für viele Erwerbstätige Realität. Jeder siebte Arbeitnehmer hat Probleme mit der Vereinbarkeit von Arbeitszeit und Freizeit, und ebenso viele Arbeitnehmer haben wegen beruflicher Verpflichtungen ihre Pläne für private Aktivitäten geändert. Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland kann in seiner Freizeit aufgrund der Arbeitsbelastung nicht abschalten. Das sind über acht Millionen Menschen.

Büroarbeiter erhalten pro Jahr im Durchschnitt 8.140 E-Mails. Bei 220 Arbeitstagen sind das 37 E-Mails am Tag, die es zu lesen gilt – manchmal mit unzähligen Anlagen.

Muße macht also nicht Halt bei den Managern, sondern ist gleichermaßen ein Thema für „normale“ Arbeitnehmer. Wie sollen denn Arbeitgeber konkret dieser Muße im Betriebsablauf eine Chance geben?

Indem sie Freiräume schaffen und am besten eine Kultur der Muße „von oben“ vorleben. Hier sind die Führungskräfte als Vorbilder gefragt, die in ihr Unternehmen wirken können und ggf. eine Balance von An- und Entspannung überzeugend praktizieren. Auch indem sie die Rahmenbedingungen gestalten mit flexibler Arbeitszeit und flexiblem Arbeitsort.

Welchen belegbaren betriebswirtschaftlichen Nutzen bringt es dem Arbeitgeber, wenn er den Mitarbeitern Mußezeiten einräumt?

Es spart Kosten – der Gesellschaft und dem Unternehmen. Verlässliche Zahlen sind hier sehr rar, doch die sogenannten volkswirtschaftlichen Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen beziffern sich auf 100 Milliarden Euro pro Jahr. Betrachtet man die Unternehmensebene: Ein ausgebrannter Arbeitnehmer fällt durchschnittlich 58 Tage aus und verursacht seinem Arbeitgeber damit ca. 13.340 Euro Ausfallkosten.

Ein ausgebrannter Arbeitnehmer mag teuer kommen, aber das ist eine Eventualität. Ein komplexer Schichtplan oder gar eine zusätzliche Planstelle sind dem gegenüber teure Realität.

Eine Frage der Sichtweise: Kurzfristig ist einem Unternehmen geholfen, wenn die vielen Arbeitspakete, zusätzlichen Projekte und Aufgaben auf vorhandene Mitarbeiter verteilt werden. Kurzfristig. Und ein motivierter Mitarbeiter wird wohl mit Verständnis grundsätzlich bereit sein, diese zusätzlichen Arbeiten mit begrenztem Zeithorizont zu übernehmen. Doch in Zeiten knapper Budgets und Headcounts besteht immer wieder die Gefahr, diese eigentlich nur begrenzten Aufgaben dauerhaft bei denen zu belassen, die sie ja gut ausgeführt haben – nicht selten Potenzialträger und motivierte Mitarbeiter in Unternehmen. Warum eine neue Planstelle schaffen, die sowieso nicht genehmigt wird, wenn es doch läuft? Keiner hat sich bisher beschwert, und das mit einer halben Vollzeitstelle weniger – „geht doch“… Langfristig mündet diese Praxis aber in eine Unzufriedenheit beim betroffenen Mitarbeiter, vielleicht in Erschöpfungszustände, in krankheitsbedingte Abwesenheiten, in eine Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität oder sogar in eine Kündigung. Diese Konsequenzen sind dann eine teure Realität für die Unternehmen.

Haben wir zu viel Arbeit, oder haben wir die falsche Arbeit? Will sagen: könnten wir an irgendwelchen Stellen was weglassen oder die Arbeit besser verteilen?

Ich glaube, es ist ein Wunschtraum, weniger Arbeit zu haben, denn die unternehmerische Realität sieht anders aus: Ein Arbeitnehmer geht in Ruhestand oder wechselt den Job – und der Arbeitgeber schaut, ob er nicht irgendwie die Kapazität einsparen kann. Der verbleibende Kollege macht die Arbeit mit – wenig entspannt – und der Vorgesetzte sieht, es klappt irgendwie. Es wird also alles dichter, und Zeit und damit Geld wird „optimiert“ – betriebswirtschaftlich nachvollziehbar, doch der soziale Aspekt bleibt außen vor.

Was müssen Manager in ihrer Führung verbessern?

Führungskräfte müssen eine „Antenne“ für ihre Mitarbeiter haben und ihre empathischen Fähigkeiten aktivieren. Es gibt Arbeitnehmer, die in der Realität über große Zeitpuffer verfügen, aber überall nur „Stress“ sehen und jede neue Aufgabe mit „Wann soll ich das bitteschön auch noch tun?“ kommentieren. Diese gilt es von denen zu unterscheiden, die tatsächlich überlastet sind, die unter Zeitdruck und hohem Arbeitsvolumen „leiden“. Es gibt auch Führungskräfte, die ihren eigenen Druck und ihre Arbeitspakete „nach unten durchreichen“. Spätestens bei diesen wirklich überlasteten Mitarbeitern müssen sie halt machen. Eine guter Manager erkennt diese KollegInnen und versucht gemeinsam mit ihnen, Lösungen zu finden, welche Aufgaben beispielsweise verlagert beziehungsweise delegiert und welche zeitlich verschoben werden können. Der wirklich gestresste Mitarbeiter braucht das Gefühl, verstanden zu werden und zu spüren, dass der Chef unterstützt und hilft. Und dabei spielt natürlich auch die Kommunikation der beiden eine entscheidende Rolle.

Die „Generation Y“ – die jungen Fachkräfte, die sich bewusst Ziele neben dem Erfolg bei der Erwerbsarbeit setzen – können diese in ihren Betrieben einen „mußevollen“ Umgang mit ihren Ressourcen durchsetzen?

Die Generation Y wird den Umgang mit Muße in den Unternehmen verändern. Es wird ein längerer Prozess werden, doch die Knappheit der Ressource Mitarbeiter wird zu einem Umdenken in Unternehmen führen. Im Mittelstand lässt sich das schon jetzt an ausgewählten Unternehmenskulturen und -philosophien ablesen, die Großunternehmen müssen früher oder später auch diesen Fokus setzen.

Haben Sie persönlich als Ökonom und Muße-Forscher Selbsthilfe-Tipps, wie Arbeitnehmer sich neben einem hohen Maß an Arbeit auch ein kleines Quantum Muße nehmen könnten? 

Viele. Hier nur soviel: Richten Sie Ihren inneren Kompass aus! Werden Sie konkret! Schützen Sie Ihr Gehirn vor Überladung! Nichtstun – tun Sie es!

 

Bild: Hochschule Mainz

Interview: Michael Lemster

Weitere Artikel zum Thema Personalmanagement finden Sie im HR-Channel von buchreport und Bommersheim Consulting.

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