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Mit Blei an den Beinen

Die deutsche Buchproduktion hat nach den gerade vorgelegten Zahlen eine neue Rekordmarke erreicht, ganz egal welche Zählung man zugrunde legt:

  • 96479 Neuerscheinungen (+1,9%) hat die Deutsche Nationalbibliothek 2007 gezählt einschließlich ISBN-tragender Veröffentlichungen von Institutionen (s. buchreport.datei).
  • 86084 Erstauflagen von Verlagen (+6,2%) hat der Börsenverein addiert und dabei Neuauflagen außen vor gelassen.

Die Rekordmarken gelten als Beweis für Kreativität und inhaltliche Vielfalt, die der Branche gleichzeitig wie Blei an den Beinen hängt. Im stärker angeheizten Rennen um Regal- und Bestsellerplätze nimmt die Zahl der unverkäuflichen Bücher zu. Ein Dauerthema für die Arbeitsgemeinschaft Prozesse, Rationalisierung und Organisation (AG Pro) des Börsenvereins, die sich aktuell mit dem Reizthema Remissionen beschäftigt.

Körperlose Remission ohne Einspareffekt?

Zur Erinnerung: Angestoßen von dem Verleger Matthias Ulmer und Osiander-Mitinhaber Heinrich Riethmüller, Vorsitzender des Sortimenter-Ausschusses, hatte sich das Branchenparlament im April mit dem Vorschlag einer körperlosen Remission für Titel unter 20 Euro befasst, wie sie vor allem im Zeitschriften und Kalendergeschäft relativ verbreitet ist. Die Rationalisierer-Denkrunde der AG Pro wurde mit einer Praxisanalyse beauftragt.

Im Gespräch mit buchreport präsentiert die AG-Pro-Vorsitzende Franziska Bickel (Buchhandlung Vogel, Schweinfurt) jetzt Zwischenergebnisse:

  • Der hohe Aufwand, der für eine körperlose Remission und Entsorgung für Titel bis zum Ladenpreis von 20 Euro von Verlagen und Buchhändlern in Anschlag zu bringen wäre, steht nach bisherigem Untersuchungsstand der AG Pro in keinem Verhältnis zu den erhofften Sparpotenzialen.
  • Der einzige Kostenblock, der entfallen würde, wäre der Bücherwagendienst für die Rückführung der Remittenden zur Verlagsauslieferung.

Die Analyse ist allerdings noch nicht komplett: Während ein großer HandelsPlayer wie Thalia Zahlen für die Analysen bereitstellte, zeigten sich die großen Zwischenbuchhändler laut Bickel zögerlich. Ob hier gegenläufige Interessen berührt werden oder ob die Zwischenbuchhändler reserviert sind, weil sie sich bei der Verleger- und Buchhändlerveranstaltung AG Pro nicht integriert sehen, es fehlen jedenfalls Daten: Die AG Pro will sich nun über den Börsenverein an den Ausschuss für den Zwischenbuchhandel wenden, um gegebenenfalls anonymisierte Daten für die weitere Auswertung zu bekommen.

Quadratur des Kreises auf der Agenda

„Obwohl zahlreiche Faktoren bereits gegen den Vorschlag sprechen, werden wir  die Überprüfung in den nächsten Wochen fortsetzen“, betonte Bickel. Zur nächsten Sitzung des Branchenparlaments im Herbst soll ein Papier für die Diskussion vorliegen. Angesichts eines Anteils der Remissionen von 7,5% am Gesamtumsatz (laut Logistikumfrage 2008 der Zwischenbuchhändler) wird die Debatte über unverkäufliche Bücher ein Dauerproblem bleiben.

Die Crux liegt im System und im Novitätendruck, der die Verweildauer im Buchhandel verkürzt: Matthias Ulmer hatte sich bei der Präsentation seines Vorschlags auch für eine „Mindestbehaltefrist“ im Sortiment ausgesprochen,  denn der Wettbewerb der Neu- und Erstauflagen hat sich in den letzten Jahren sukzessive verschärft:

  • Es gibt nicht nur immer mehr neue Bücher, auch der Takt wird schneller. Die Verlage, zuletzt Random House mit Einführung der dritten Reise (buchreport berichtete), drücken bei der Auslieferungsrhythmik mächtig aufs Tempo, um die erhoffte Aufmerksamkeit zu erlangen.
  • Parallel ordern die verunsicherten Sortimenter immer rascher neue Ware für die Regale, um im dauernden Spitzentitel-Geklingel keinen Ton zu verpassen.
  • Viele Remittenden landen irgendwann im grauen Markt und auf den Billigtischen. Dort graben sie Publikationen für das Moderne Antiquariat das Wasser ab und sorgen für eine Verschärfung im Niedrigpreissegment.

Dass teurer Ballast über Bord muss, ist Konsens. Weil in der heterogenen Branche Konsens aber allenfalls Thema für Festtagsreden ist, bleibt ein konkreter Lösungsansatz für die Entschärfung des Problems auf der Wunschliste.

Altes Mäßigungsrezept aus dem Feuilleton

Eloquent und mit einem frommen Wunsch garniert hat sich zuletzt auch das „Zeit“-Feuilleton der ausufernden Produktion angenommen: Literaturchef Ulrich Greiner hat sich aus der Novitätenstatistik des Börsenvereins die allein 14000 Belletristik-Neuerscheinungen herausgegriffen. Angesichts der Schwemme müsse der Leser hurtig sein, „wenn er die nicht allzu vielen wirklich guten Bücher erwischen will“. Die Buchhandlungen nähmen immer mehr „den Charakter von Schleusen an, die zweimal im Jahr die Titelflut durch ihre schmalen Tore pressen. Alt ist ein Buch nach wenigen Monaten.“

Den Umsatz steigere man am leichtesten, indem man die Titelzahl erhöht, erkennt Greiner die wirtschaftliche Strategie der Verlage, auch wenn er sich wünscht, „die Verlage möchten damit aufhören, die Regale mit vollkommen Entbehrlichem vollzustopfen“ und bei der Gelegenheit an den „genialen wie dreisten Streich“ des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld (1924–2002) erinnert, der 1983 mit Novitäten pausierte, um stattdessen mit einem „Weißen Programm“ aus Backlisttiteln aufzuwarten. Letztlich aber nur ein Verweis, dass das Titelflutproblem ein sehr altes ist.

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