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Martina Bergmann: Tausend braucht man

Martina Bergmann: Tausend braucht man

Die Amazon-Affäre ist kein Skandal einer bestimmten Branche, sondern zeigt eine gesellschaftlich blamable Situation. Sie betrifft die Bad Hersfelder Päckchenpacker ebenso wie Angestellte im Einzelhandel und die Fahrer der Logistikfirmen.

Ich hatte eine Kommilitonin, die war Genussexperte. Sie verfügte über Kenntnisse in Käse, Wein und Schokolade, die mir bis heute fehlen. Neben den Nudelsaucen dieser passionierten Köchin ist mir ihr Leitsatz in Erinnerung: Tausend braucht man. Eintausend Euro seien erforderlich, um an den Genüssen teilzuhaben, die für ihre Schicht prägend waren. Ich brauchte zu der Zeit in Berlin nicht tausend Euro zum Glücklichsein. Aber ich hatte auch von Käse keine Ahnung.

Nun fiel sie mir wieder ein – als frühe Kundin von Amazon. Während das Gemüse langsam köchelte, kaufte sie am Macbook Bücher. Sie musste dazu nicht außer Haus, und sie musste nicht mit Menschen sprechen. Das fand sie komfortabel. Ich fand es dämlich, denn sie hatte gleich um die Ecke einen richtig guten Buchhändler, der ihr manchen Fehlkauf erspart hätte. Aber der war angeblich beschränkt. Langsam. Sagte die Frau, die fünf Stunden Nudelsauce kochen konnte. Nein, das sei was anderes, das hätte mit Lebensqualität zu tun. Nun gut.

Schon da zeichnete sich ein Konsumverständnis ab, das in der Zwischenzeit Kontur gewonnen hat. Der heutige Kunde kauft ein, wo es am bequemsten ist – im Internet am Küchentisch. Ein wesentlicher Faktor seines Komforts ist die Abwesenheit von vermeintlich weniger kultivierten Menschen. Er surft an Menschen vorbei, die seine Optik stören. Als Einzelhändler begegnet man ihm erst am Ende seines Wissens. Dann hat er schlechte Laune, und sein Auftritt spiegelt das.

Warum mir das jetzt einfällt? Gerade jetzt, wo ich mich freuen müsste, dass Millionen Fernsehzuschauer die schmutzige Arbeitsrealität hinter Amazons digitaler Fassade gesehen haben? Ich kann davon ausgehen, dass neue Kunden in meine Buchhandlung kommen, aber auch solche, die ich kannte und die ich an ein Onlinekaufhaus verloren habe.

Es fällt mir jetzt ein, weil Amazon kein Einzelfall ist, sondern exemplarisch. Wir leben in einem Niedriglohnland, wo viele Menschen aus ihrem Einkommen die alltäglichen Kosten nicht bestreiten können, während andere sicher davon ausgehen, dass das, was man so braucht, auch kommt. Tausend braucht man. Und wer die nicht hat, der war nicht cool genug? Der hat von Käse keine Ahnung? Ich finde, das ist der eigentliche Skandal. Es ist kein Skandal einer bestimmten Branche, sondern eine gesellschaftlich blamable Situation.

Sie betrifft die Bad Hersfelder Päckchenpacker ebenso wie Angestellte im Einzelhandel und die Fahrer der Logistikfirmen. Sie betrifft viele Kollegen, deren Selbständigkeit kaum mehr ist als Subsistenz. Sie betrifft jeden, der mit Arbeit Geld verdient. Denn mit den Zusatzkosten der Arbeit werden die Ansprüche derer erwirtschaftet, denen etwas zusteht. Ob nun das Sozialgesetzbuch oder das Beamtenrecht: Die dort verbrieften Ansprüche kosten unser Geld, bevor wir es überhaupt verdient haben.

Das schwächste Glied in dieser Wertschöpfungskette ist der Mensch. Je weniger man ihn sieht, je sorgfältiger er hinter digitalen Fassaden verborgen bleibt, desto leichter fällt es, nicht an ihn zu denken. Wer aus Bequemlichkeit, aus Menschenscheu, aus Design- und Statusgründen online einkauft, billigt Zustände, die ihn empören würden, wenn er sie alltäglich vor Augen hätte.

Und was, wenn diese Leute selbst bei Amazon arbeiten sollten? Die Kommilitonin von damals wusste neben Kochrezepten auch präzise auszudrücken, wenn etwas für sie unzumutbar war. Da handelte es sich um weitaus kleinere Übel als Schikane von rechtsbrauner Security. Aber sie hatte ihre Käselobby. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir anderen uns auch verbünden. Eine Zweiklassengesellschaft ist nicht das, was ich mir und den Menschen um mich wünsche.

Martina Bergmann ist Buchhändlerin in Borgholzhausen

Kommentare

8 Kommentare zu "Martina Bergmann: Tausend braucht man"

  1. Ich finde den Kommentar durchaus lesenswert. Mit Jammerei hat dies nichts zu tun, wenn man Dinge beim Namen nennt. Aber solange alle Schiß haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, nur wenn man mal seine Meinung vertritt, bläht man sich halt lieber per Nickname im Internet auf.

    Digital dement und sozial verkümmert, ob es uns glücklich macht? Ich bezweifle es, denn unter der Wohlstandsruhe brodelt es gewaltig!

  2. Auch wenn er nicht so verstanden werden sollte: Es ist ein stetes Jammern des (Buch)Handels über die Internetkonkurrenz. Aber ich habe es satt, mich als Verbraucher andauernd an den Pranger stellen zu lassen und mich rechtfertigen zu müssen, warum, wie und wo ich kaufe. Im Internet komme ich 24 Stunden an Waren, im Handel höre ich oft genug „Hamwanich“ – und dann ist da keine Rede davon, wieviele Mühen es mir machte, nach einem Acht- bis Zehnstundenjob überhaupt in den Einzelhandel zu hetzen …. Mann ihr müsstet auch mal Service für Eilige und Abgehetzte bieten!

    Und natürlich verabscheue ich Arbeitsbedingungen wie die bei Amazon, aber ich bin nicht schuld daran, dass es in Deutschland keinen befriedigenden Mindestlohn gibt, dass Zeitarbeit und Teilzeitjobs so dämlich flexibilisiert wurden, dass Menschen heute nicht mehr von ihrer Arbeit leben können und der Staat auch noch prekäre Arbeitsverhältnisse subventioniert. Deutschland ist ein Niedriglohnland, und die, die wenig verdienten, verdienen jetzt fast gar nichts mehr. Dafür aber kann ich nichts! Ich meine, immer richtig gewählt zu haben. Ich kauf durchaus preisbewusst ein, will heißen: nicht das Billigste. Ich meide natürlich Amazon, nicht erst seit dem Film, sondern weil ich eigentlich eine reichhaltige, vielseitige Handelswelt in der Stadt, aber auch im Internet erhalten will.

    Aber so lange wir, Händler wie Kunden, gegenseitig auf uns herum hacken, müssen Politiker nichts tun gegen offensichtliche Missstände im Arbeits- und Tarifrecht. Und lachen sich Konzerne wie Amazon ins Fäustchen und nutzen Gesetzes- sowie Steuerlücken

  3. Martina Bergmann | 24. Februar 2013 um 19:23 | Antworten

    Ich wollte diesen Beitrag nicht als Jammerei verstanden wissen; beileibe nicht. Ich glaube auch nicht, dass die gegenwärtige Krise des Buchhandels Amazon zuzuschieben ist. Sie ist eher die logische Konsequenz des schwierig zu fassenden Dünkels einer verschlafenen Generation. Ich glaube aber, dass beide, Amazon als auch die Ewiggestrigen des Einzelhandels, eine große Gefahr meiner Generation sind. Und deswegen hätte ich gern, dass mehr Leute mehr deutlich sind. Dass sie sagen – So nicht, nicht mit mir. Das war also eine Kampfansage.

  4. Wer sich einmal die Mühe macht und in die Tiefen der Verträge mit Amazon eintaucht, muß feststellen, bei Ebooks ist Amazon die wohl teuerste Leihbücherei der Buchhandelsgeschichte.

  5. Schlimm ist nicht nur die Anonymität, sondern die Art und Weise , wie
    wir uns widerstandlos in die digitale Demenez begeben. Wenn eine Kundin
    zu mir kommt und sagt, sie komme nicht mehr zum Lesen, weil Facebook so
    ihre Zeit beanspruche, daß sie kaum noch Zeit habe für ihre Freundinnen(!) .Oder die andere, die mich kaum wahrnimmt, weil
    sie während ihres Einkaufs – anstatt mit mir mehr als das Notwendigste zu
    sprechen – permanent in ihr iPhone daddelt. Insofern hat die Kollegin recht
    , daß sich tatsächlich die Wahrnehmung für die Prioritäten verschiebt und
    eine gewissen Grad asozialen Verhaltens zur Folge hat.

  6. Man muss nicht alle sarkastischen Töne des Beitrags gut finden, aber Wahrheiten tun nun mal weh, besonders dem, den sie angehen. Neuerdings jammern eben nicht mehr nur die Buchhändler, sondern eine Gesellschaft, die die Anonymität mehr und mehr fördert, aber mit den Folgen nicht gerechnet hat.

  7. Jammern Jammern Jammern… erbärmlich

  8. Ich kann den Frust der Buchhändler verstehen, aber ich habe kein Verständnis für die Veröffentlichung von Halbheiten und unrichtigen Annahmen. Deutschland: Niedriglohnland? Man sollte hier mal unser Lohnniveau international vergleichen. Sicher, Menschen denen es schlechter geht gibt es immer.

    Nutzung des Internets, um anderen Menschen ( deren Optik einen stört) nicht zu begegnen? Diese Pauschalierung finde ich schon ganz schön frech.
    Und Amazon? Amazon ist bei weitem nicht so ein mieser Arbeitgeber, wie in den Medien dargestellt. Der ARD Beitrag kritisierte vor allem Firmen, die sich an Amazon drangehängt haben um Profit zu machen. Weder die Leiharbeitsfirmen noch die Security sind Amazon. Ja, dem Buchhändler von nebenan geht es in diesen Tagen nicht so gut, da ihm Ebooks und Onlinehändler die Laufkundschaft vermindern. Doch das ist der Markt und als Händler muss man sich dem anpassen, statt die Schuld bei anderen suchen

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