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Deutschlands fast verlorenes Spiel

Der Lockdown beweist das Versagen an der digitalen Front, schreibt Dirk von Gehlen in der „Süddeutschen Zeitung”. 

Key Pousttchi ist der erste Professor für Digitalisierung in Deutschland. Er schließt sich Gehlens Kritik, dass die Digitalisierung nicht verschlafen, sondern aktiv unterdrückt worden sei, nicht in dieser Härte an. In seinem Buch „Die verblendete Republik“ zeigt er allerdings, wie Deutschlands Verwaltung und Großunternehmen den wesentlichen Trends hinterherlaufen – und wie sie damit zum Risiko für unsere wirtschaftliche und kulturelle Zukunft werden.

Im IT-Channel von buchreport.de benennt er unter anderem eines der größten Probleme, das auch den IT-Verantwortlichen vieler Verlage bekannt vorkommen dürfte: die überschießende, lähmende Komplexität von IT-Landschaften. Und er beschreibt Wege aus der Lähmung – rechtzeitig, bevor die nächste Krise eine Digitalkrise wird.

 

Key Pousttchi ist der erste deutsche Universitäts-Professor für Digitalisierung und Wirtschaftsinformatik. Er forscht und publiziert seit über 25 Jahren darüber, wie die digitale Transformation Unternehmen und Gesellschaft beeinflusst. (Foto: www.munayshots.de)

Die Rückbesinnung auf unseren Ingenieurgeist ist ein wichtiger Teil der Rettung. Das alleine hilft uns allerdings nicht mehr. Selbst wenn wir uns heute äußerst gründlich, fleißig und der Sache verpflichtet den Googles, Apples, Facebooks und Amazons hinterherlaufen würden: Dieses Rennen ist schon lange verloren. Gewinnen können wir nur, wenn wir uns trauen, wieder voranzugehen.

Doch wer vorangehen will, muss sich den Weg selbst suchen. Dafür muss er von dem Terrain etwas verstehen.

Das bedeutet in Bezug auf die Digitalisierung: Wir können auf diesem Feld nur vorangehen, wenn wir das entsprechende Denken lernen.

Wenn Sie VW mit Tesla vergleichen, sehen Sie den Unterschied. Die Wolfsburger haben zunächst versucht, neue Digitaltechnologie in alte Automobiltechnologie einzubauen. Das hat nichts mit „Das Digitale neu denken“ zu tun. Tesla dagegen hat genau das getan – und gewonnen.

Dass Elon Musk zu Beginn von Autos keine Ahnung hatte, war kein Hindernis. Im Gegenteil. Und heute könnte Tesla VW kaufen!

Doch warum sollte Musk das tun? Es gibt keinen Grund mehr dafür. Aber was bedeutet „digital denken“ oder – wie ich es nenne – „Digitalisierung denken“ genau? Lassen Sie uns da tiefer bohren.

 

Dimension 1 der digitalen Transformation: Die Leistungserstellung

Grundlegend dafür, Digitalisierung neu zu denken, ist es, die Wirkmechanismen am Markt zu verstehen.

Zu diesem Zweck habe ich die drei Dimensionen der digitalen Transformation herausgearbeitet. Der praktische Nutzen: Aus diesen drei Dimensionen leiten sich alle Aufgaben ab, denen Unternehmen und Organisationen sich in Sachen Digitalisierung stellen müssen.

Die erste Dimension ist das Leistungserstellungsmodell. Es gibt Auskunft darüber, wie sich die Organisation und die Prozesse eines Unternehmens verändern müssen, um die Möglichkeiten neuer Technologien zu nutzen. Damit beschäftige ich mich in der Wirtschaftsinformatik seit 25 Jahren.

Unter dem Stichwort „Business Process Reengineering“ ist bereits ganz gut nachzulesen, was zu tun ist: Es geht um ein fundamentales Umdenken und eine radikale Neugestaltung von Geschäftsprozessen. Die digitalen Technologien schaffen völlig neue Möglichkeiten, um Kosten, Qualität und Geschwindigkeit dramatisch zu verbessern.

IT-Grundlagen und Technologien der Zukunft

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Allerdings liegt hier für große Unternehmen oder auch für die öffentliche Verwaltung schon eine schwer überwindbare Hürde: Über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben sich hier dysfunktionale Organisationsformen etabliert. Der Versuch, diese 1:1 in digitale Prozesse zu überführen, macht erstens deren Dysfunktionalität transparent und ist zweitens sinnlos. Mit den Worten des langjährigen E-Plus-Chefs und Lufthansa-Vorstandes Thorsten Dirks (ein ehemaliger Offizier mit Hang zum Klartext): „Wenn Sie einen Sch…prozess digitalisieren, bekommen Sie einen digitalen Sch… prozess.“-

Die oft kaum noch nachvollziehbaren Strukturen spiegeln sich natürlich auch in den IT-Systemen dieser Organisationen wider. Die Commerzbank hat in ihrem Digital Hub in Legotürmchen nachbauen lassen, wie viele verschiedene IT-Systeme inzwischen bei ihr im Hintergrund miteinander verschränkt und übereinander geschichtet arbeiten. Ein beeindruckendes Bild: Obwohl die verwendeten Legosteine klein waren, ist eine mehrere Kubikmeter füllende Installation entstanden.

Irgendwann versteht kein Mensch in solchen Unternehmen mehr im Ganzen, welches System was tut. Eine Entflechtung ist praktisch unmöglich. Sie würde auch nur wenig helfen, denn es ist ein kompletter Neuanfang nötig: auf Organisations-, auf Prozess- und auch auf IT-Ebene.

 

Dimension 2: Das Leistungsangebot

Die zentrale Frage der zweiten Dimension, des Leistungsangebotsmodells, ist: Wie sehen unsere Produkte, Dienstleistungen und Erlösmodelle der digitalen Zukunft aus? Die meisten, die heute von „Digitalisierung“ sprechen, meinen damit nur diesen Ausschnitt. Deshalb greift deren Verständnis von Digitalisierung zu kurz. Sie sehen die Abhängigkeiten zwischen den Dimensionen nicht. Und es funktioniert nicht.

Das große Problem für klassische Unternehmen ist: Solange sie die digitale Transformation ihres Leistungserstellungsmodells noch nicht abgeschlossen haben, können sie die neuen Möglichkeiten im Leistungsangebotsmodell bestenfalls eingeschränkt nutzen. Ein typisches Beispiel: die Lufthansa, die ich eigentlich sehr mag. So gut sie in der Luft ist, so schlecht ist sie in der IT. Erst kürzlich bekam ich eine E-Mail: Bei einem Flug, den ich in der Corona-Zeit umgebucht hatte, hätten sich Änderungen ergeben.

Welche? Das verriet mir die E-Mail nicht – obwohl die Mail sehr bunt und sehr lang war und ich sehr lange nach dieser Information suchte.

Das Einzige, was deutlich wurde: Ich sollte der Änderung zustimmen, damit mein Flug nicht automatisch gestrichen wird. Und als ich entnervt auf „Ich stimme zu“ klickte, landete ich auf einer Seite, auf der ich las: „Fehler 404. Seite nicht erreichbar.“ Kein Einzelfall. Nachvollziehbar, warum ich sage, dass ein Unternehmen zuerst sicher sein muss, dass seine digitale Leistungserstellung überhaupt funktioniert, bevor es neue Dinge erfindet? Aber ohne die neuen Dinge verdient es eben morgen kein Geld mehr.

 

Dimension 3: Die Kundeninteraktion

In der dritten Dimension – dem Kundeninteraktionsmodell – geht es darum, in welchem Verhältnis Unternehmen und ihre Kunden in Zukunft stehen.

Zu dieser Dimension haben Sie zweifellos schon einiges gehört. Die Kernfrage lautet: Wem gehört der Kunde? Denn der Besitzer hat alle anderen Unternehmen in der Hand. Das ist die Marktmacht der Zukunft.

Deshalb haben es Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon, aber auch die kleineren Angreifer wie FinTech & Co., genau hierauf abgesehen. Und greifen vom digitalen Marktgeschehen aus heute bereits massiv in das reale Marktgeschehen ein. Sie haben verstanden: „Digitalisierung denken“ heißt auch, radikal vom Kunden her denken. Denn schon jetzt ist abzusehen, dass jeder Marktteilnehmer, der nicht radikal vom Kunden her denkt, nicht nur in der digitalen, sondern auch in der realen Wirtschaftswelt verloren hat.

Wohlgemerkt: „Vom Kunden her denken“ heißt längst nicht immer, dass das Ergebnis auch wirklich im Interesse des Kunden ist – aber das Nutzungserlebnis muss stimmen. Immer.

 

Key Pousttchi: Die verblendete Republik. Warum uns keiner die Wahrheit über die Digitalisierung sagt.

160 Seiten, gebundene Ausgabe, 20,00 Euro

ISBN: 978-3-947572-76-2

Kommentare

1 Kommentar zu "Deutschlands fast verlorenes Spiel"

  1. Wolfgang Preuss | 7. Mai 2021 um 16:26 | Antworten

    BRD – mit Elan an die digitale Spitze!
    Für mich die Quintessenz aus dem Buch „Die verblendete Republik“. Absolut lesenswert. Besonders Pflichtlektüre für alle, die heute in Deutschland DIGITALISIERUNG auf ihre Fahnen geschrieben haben. Als ich mich vor über 20 Jahren um die IT-Struktur des UN Formates EDIFACT kümmerte, schickte die Bundesregierung IT-Fachleute nach China, um dort Aufbauhilfe zu leisten. Heute scheinen wir vornehmlich nur Angst zu haben von internationalen Entwicklungen abgehängt zu werden, den Anschluss zu verpassen. Dabei geht es heute mehr denn je darum, selbst führend in der Spitzengruppe zu sein. Nicht das Abwehren von sicherheitstechnisch fragwürdigen Konzepten wie ANDROID Systemen muss unser Ziel sein. Sondern die Schaffung eigener IT Systeme, die einfach sind, gut kontrollierbar und insbesondere unter unserer Kontrolle und nicht vom Entwicklungsstab von Microsoft und Co. mit ihren Dependancen in China abhängig. Das Buch von Key Pousttchi zeigt auf, wo es hakt. Die wichtigsten Konsequenzen, wo wir ansetzen können, zeigt er plakativ auf letzten Seiten ab Seite 151 auf. „Yes, we can!“ Ein europäisches Betriebssystem für die vernetzte Welt. Konkurrenzfähige Systeme in einer IT-Dienstleistungswelt-Welt, die heute von Google, Apple, Facebook und Amazon beherrscht wird. Wenn wir nicht von diesen Unternehmungen im IT Bereich dominiert, manipuliert und verdummt werden wollen, müssen wir uns wieder an die IT Spitze setzen und selbst entwickeln. Die Kraft dafür haben wir. Das Buch motiviert und ich hoffe, dass sich möglichst viele Europäer in der Praxis mit diesen nackten Fakten beschäftigen und alles dafür tun, dass wir, anstatt die estnische Ministerpräsidentin kaltschnäuzig abblitzen zu lassen, in europäischer Kooperation diese wichtigen Gemeinschaftsprojekte auf den Weg bringen. Jede/jeder aus dem Blickwinkel, den sie/er hat und in dem er/sie IT-Fragen anstoßen oder gar entscheiden kann. Man sieht, dass unkontrollierte, übermächtige IT-Entwicklungen selbst von der US-amerikanischen Regierung im eigenen Land kaum zu stoppen ist, selbst wenn es als notwendig erkannt wird. Diesen Grundfehler können wir nur durch Eigenentwicklungen vermeiden. Dafür muss jeder seinen Beitrag leisten, soweit er die Möglichkeit dafür hat. Dazu motiviert die Lektüre dieses Buches, das an praktischen Beispielen zeigt, wo angesetzt werden kann. Daher kann ich dieses Buch nur empfehlen. Einfach gesagt: es ist noch nicht zu spät wieder selbst IT-Maßstäbe setzen. Packen wir’s endlich wieder an! Es ist noch nicht zu spät.

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