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Beim Feilschen gewonnen

buchreport hat bei Autoren angeklopft und gibt Einblicke in ihre Kreativitätsstätten. Die Schriftsteller verraten, wie ihre Geschichten entstehen, welche Umgebung sie schätzen und wie diszipliniert sie an ihren Schreibtischen sitzen. Heute zu Gast bei Nico Bleutge (Foto):

Eigentlich habe ich zwei Schreibtische. Einen im Schlaf- und einen im Wohnzimmer. Die beiden Zimmer liegen Wand an Wand, aber das Schlafzimmer geht nach Norden, das Wohnzimmer nach Süden. So herrschen hier oft ganz unterschiedliche Licht- und Temperaturverhältnisse. Während man sich im Wohnzimmer wie auf einer sommerlichen Veranda fühlt, kann das Schlafzimmer zur gleichen Zeit an eine Höhle erinnern. Es ist gut, zwischen diesen beiden Atmosphären, zwischen diesen beiden Denk- und Empfindungswelten hin und her wandern zu können. 

Der Schreibtisch im Wohnzimmer ist eigentlich eine Notlösung: Ich stehe meist ein wenig früher auf als meine Freundin – damit ich dann gleich schreiben kann, setze ich mich an den Tisch im Wohnzimmer. Und eigentlich ist er gar kein Schreibtisch, sondern ein kleiner Esstisch mit ausklappbaren Seitenteilen. Dünne, weiß lackierte Halbkreise, die mich immer an abgesägte Flügel erinnern. Ohne diese Seitenflügel könnte ich nicht arbeiten, denn hier landen all die Materialien, die ich für das Schreiben brauche: Zeitungsausschnitte, Fotos, Entwürfe, Gedichtvarianten – und jede Menge Bücher, fremde Stimmen gleichsam, die oft einen ersten Impuls für einen Text setzen, einen Stachel.

Früher habe ich chaotisch geschrieben, immer dann, wenn ich diesen Stachel plötzlich spürte, manchmal nach dem Aufstehen, manchmal am frühen Abend, bis weit hinein in die Nacht. Aber seit ich ganz als freier Autor arbeite, ist das anders. Von Gedichten alleine lässt sich nicht leben. In der Praxis, in meiner Praxis, bedeutet diese Binsenweisheit, dass ich Artikel für Zeitungen schreibe, Buchbesprechungen zumeist. Um Zeitungsarbeit und Gedichte unter einen Hut bringen zu können, musste ich mir irgendwann einen halbwegs gleichmäßigen Rhythmus angewöhnen. Die erste Zeit des Tages gehört dem Gedicht, der späte Nachmittag den Artikeln. Kultivierte Schizophrenie gewissermaßen.

Es war nicht leicht, mir den Wohnzimmertisch zu erobern. Meine Freundin und ich haben regelrecht gefeilscht. Am Ende hat sie das kleine Arbeitszimmer bekommen. Dafür (und für das längere Schlafen) nimmt sie in Kauf, dass ich inzwischen die meiste Zeit im Wohnzimmer sitze. Und dass wir fast immer in der Küche essen. Schwierig wird es nur, wenn wir Gäste haben. Dann schließe ich mich im Wohnzimmer ein und versuche so schnell als möglich den Tisch frei zu räumen. Aber oft bleibe ich an einzelnen Zetteln hängen oder rutsche noch einmal in einen Vers. Erst das Knarzen der Dielen zeigt mir an, dass der Besuch längst da ist – und meist gelingt es mir gerade noch, das ganze Material rüber in die Höhle zu schaffen.

Zur Person: Nico Bleutge

Auf seine zahlreichen Auszeichnungen angesprochen erwiderte  Nico Bleutge im Sommer dieses Jahres dem „Donaukurier“: „Wenn man lange konzentriert und einsam vor sich hin arbeitet, dann freut man sich über die Wertschätzung anderer Menschen.“ Seine beiden Gedichtbände „klare konturen“ (2006) und „Fallstreifen“ (2008) sind bei C.H. Beck erschienen. 

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