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Margaret Atwood: „Irgendjemand hat die verbotene Kammer geöffnet“

Der Börsenverein hat die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood (77) in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Atwood zeige „immer wieder ihr politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährli­che unterschwellige Entwicklungen und Strömungen“, heißt es in der Begründung des Stiftungsrates.

Der seit 1950 vergebene Friedenspreis ist ein politischer Preis, wobei die Schriftstellerin und aktuelle Laudatorin Eva Menasse hervorhebt, Atwood zeige, „wie politische und gesellschaftliche Analysen Eingang finden, ohne die Literatur zu verbiegen oder zu beschweren“. Menasse würdigt die Sprachkraft, Fantasie, Humor und kompositorische Kunstfertigkeit der Preisträgerin.

Atwood setzt sich in ihren Romanen, oft in Form von Dystopien, mit Totalitarismus und der Stellung der Frau in der Gesellschaft auseinander. Sie engagiert sich zudem in Umweltfragen und setzt sich für Maßnahmen gegen die globale Erwärmung ein.

Was nach Aktivismus meinerseits aussieht, ist meist eine Art tollpatschiges Staunen. Warum hat denn der Kaiser nichts an?

Margaret Atwood selbst beschreibt in ihrer Dankesrede die Gratwanderung zwischen dem beschreibenden Staunen über menschliches Verhalten und dem damit fast zwangsläufig empfundenen Eindruck eines politischen Aktivismus. „Ich bin keine echte Aktivistin – eine echte Aktivistin würde ihr Schreiben als Vehikel für ihren Aktivismus sehen – für ihre wichtige Sache, welche auch immer –, und das war bei mir nie der Fall. Es stimmt zwar, dass man keine Romane schreiben kann, ohne die Welt zu betrachten, und dass man sich beim Betrachten der Welt natürlich fragt, was los ist und das dann zu beschreiben versucht. Ich glaube, Schreiben ist zu einem Großteil der Versuch zu ergründen, warum Menschen tun, was sie tun. Menschliches Verhalten, tugendhaftes wie teuflisches, versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Wer jedoch über menschliche Verhaltensweisen schreibt, erweckt vielleicht den Anschein von Aktivismus, da Sprache eine inhärente moralische Dimension hat, und Geschichten genauso. Der Leser wird moralische Urteile fällen, selbst wenn der Schriftsteller behauptet, nur Zeugnis abzulegen. Was nach Aktivismus meinerseits aussieht, ist meist eine Art tollpatschiges Staunen. Warum hat denn der Kaiser nichts an, und warum wird es so oft als unhöflich empfunden, wenn man einfach damit herausplatzt?“

Aber Margaret Atwood zieht sich nicht auf die Position der Naturwissenschaftlerin zurück, die sie ursprünglich werden wollte, noch auf die der Geschichtenerzählerin zurück, die mehr oder weniger zwangsläufig Bilder von Unterdrückung beschreibt. Sie geht neben einer etwas platten Fabel vom Wolf, der sich den Kaninchen als starker Anführer andient, auch explizit auf aktuelle politische Entwicklungen ein:

Wem gehört das Gesicht da im Spiegel? Warum wachsen uns Fangzähne? Erst gestern noch waren wir von so viel gutem Willen und Hoffnung beseelt.

„Was ist das für ein seltsamer historischer Augenblick? Es ist eine Zeit, wo der Boden – der vor Kurzem noch ziemlich stabil wirkte, wo Saatzeit auf Erntezeit folgte und ein Geburtstag auf den nächsten und so weiter – wo dieser Boden unter unseren Füßen wankt, ein mächtiger Wind bläst und wir nicht mehr genau wissen, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr genau, wer wir sind. Wem gehört das Gesicht da im Spiegel? Warum wachsen uns Fangzähne? Erst gestern noch waren wir von so viel gutem Willen und Hoffnung beseelt. Und jetzt?

Die Vereinigten Staaten erleben gerade einen solchen Augenblick. Nach der Wahl 2016 sagten junge Menschen dort zu mir: Das hier ist das Allerschlimmste, was je passiert ist. Worauf ich sowohl erwiderte: Nein, nein, es ist schon Schlimmeres passiert, als auch: Nein, das stimmt nicht; noch nicht.

Viel Heulen und Zähneklappern, das gilt – in Anbetracht der jüngsten Wahlergebnisse – auch für Deutschland. Diese Gruft hielt man bislang für verschlossen, doch irgendjemand besaß den Schlüssel und hat die verbotene Kammer geöffnet.

Großbritannien macht ebenfalls gerade schwierige Zeiten durch, mit viel Heulen und Zähneklappern. Und dasselbe gilt, wenn auch auf weniger drastische Weise, aber doch – in Anbetracht der jüngsten Wahlergebnisse – auch für Deutschland. Diese Gruft hielt man bislang für verschlossen, doch irgendjemand besaß den Schlüssel und hat die verbotene Kammer geöffnet – was für ein Ungeheuer wird daraus geboren? Verzeihen Sie mir dieses schauerliche Szenario, doch an vielen Fronten besteht Anlass zur Sorge.“

Atwood fragt nach der Rolle der Kunst in „verstörenden Zeiten“. Es gebe darauf keine allgemeingültige Antwort. Auch Geschichten könnten eine gute Seite und eine schlechte Seite haben, und eine dritte Seite, die unvorhergesehene Wirkungen zeitigt. „Als Geschichtenschreiberin bin ich natürlich verpflichtet zu sagen, wie notwendig sie sind, wie sehr sie uns helfen, einander zu verstehen, wie sie Empathie schaffen und so weiter – und das ist wahr. Aber weil ich Geschichten schreibe, bin ich mir auch bewusst, dass sie Mehrdeutigkeiten und Gefahren bergen. Sagen wir einfach so: Geschichten haben es in sich. Sie können das Denken und Fühlen der Menschen verändern – zum Besseren oder zum Schlechteren.“ (Die deutschsprachigen Zitate aus der Rede stammen aus der vom Börsenverein zur Verfügung gestellten Übersetzung von Monika Baark).

Mit der Bekanntgabe der Preisträgerin im Juni ist die Nachfrage nach den Werken von Margaret Atwood deutlich gestiegen, zeigt das Handelspanel von Media Control. Vor allem von dem als Hauptwerk geltenden „Der Report der Magd“ (Piper-Taschenbuch) wurde seit Juni im deutschsprachigen Raum Exemplare in fünfstelliger Stückzahl verkauft, auch vom englischsprachigen Original („The Handmaid’s Tale“, Random House UK) in mittlerer vierstelliger Zahl. Der jüngste Roman „Das Herz kommt zuletzt“ (Berlin Verlag) erreichte im Juni Rang 50 in der Hardcover-Bestsellerliste.

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