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Gesellschaftskritik im Abendkleid

SPIEGEL ONLINE nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle.

Diesmal: Der dystopische All-Age-Roman „Das Juwel – Die Gabe“ (Fischer FJB) von Amy Ewing steigt in dieser Woche auf Platz 19 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Diskutiert wird die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?

Hammelehle: Ein Mädchenbuch, das in einem Palast spielt. Hatten wir das bei Kiera Cass‚ „Selection“ nicht schon mal?

Keller: „Das Juwel“ spielt wirklich in der gleichen Art von Vintage-Zukunft. Überall Badewannen mit Löwenfüßen, Korsette und Kammerzofen. Als könnte jeden Moment Marie Antoinette die Szenerie betreten. Also natürlich die Marie Antoinette von Sofia Coppola. Da es sich um eine Dystopie handelt, gibt es aber natürlich auch einen unterdrückten, weitaus ärmlicheren Teil in dieser Welt. Du kannst ja mal raten, woher unsere Heldin kommt…

Hammelehle: Doch nicht etwa aus dem Teich der hässlichen Entlein?

Keller: Teich kommt feuchtigkeitsmäßig schon nah ran. Die armen Gebiete werden „der Sumpf“ genannt. Und dort würde die Heldin Violet ihr Leben verbringen, würde sie nicht über eine Gabe verfügen, die überlebenswichtig für den Adel ist.

Hammelehle: Und zwar?

Keller: Sie kann Sachen durch ihre Vorstellungskraft wachsen lassen. Schnittblumen, Zitronen, Efeu. So weit, so leicht verdaulich. Aber dabei bleibt es nicht. Es ist nämlich so, dass der Adel in dieser Welt keine eigenen Kinder bekommen kann. Deshalb müssen Mädchen wie Violet deren Babys austragen und durch ihre speziellen Kräfte dafür sorgen, dass es die klügsten, schönsten und vornehmsten Kinder werden. Eigentlich ist dies also die erste Dystopie über Leihmutterschaft und Designer-Babys.

Hammelehle: Eine Art Kate Middleton in den Zeiten der künstlichen Befruchtung – sind Mutter und Kind denn wohlauf?

Keller: Na ja, es wäre etwas voreilig, jetzt schon an überteuerte Kaschmirdeckchen und Neugeborenenstrampler zu denken. Bevor überhaupt ein Baby geboren wird, fällt glücklicherweise jemandem endlich die Ungerechtigkeit dieses Systems auf und vor allem die unlogische Tatsache, dass die armen Mädchen ihre Superkräfte nicht dazu nutzen, die Verhältnisse infrage zu stellen.

Hammelehle: Die Wiedergeburt der Gesellschaftskritik im Abendkleid? Champagnersozialismus war mir schon immer sympathisch. Wenn bloß die leidige literarische Form des Mädchenromans nicht wäre. Würdest du trotzdem zuraten, wenn ein älterer Herr wie ich fragt: Und das soll ich lesen?

Keller: Es gibt sicherlich theoretisch fundiertere Werke zu Sexualität und Biomacht. Aber in denen dürfte dafür kein Zitronenbaum eine so symbolische Rolle spielen.

Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur beim SPIEGEL, dem am 26. September erstmals der LITERATURSPIEGEL beiliegt. Ein Leser hat ihn vergangene Woche darauf aufmerksam gemacht, dass eben dieser Satz missverständlich sei. Deshalb an dieser Stelle der Hinweis: Es ist nicht Sebastian Hammelehle, dem am 26. September der LITERATURSPIEGEL beiliegt – und ebenso wenig der LITERATURSPIEGEL, dem am 26. September Sebastian Hammelehle beiliegt.

Maren Keller ist Kulturredakteurin beim SPIEGEL. Sie kann keine Dinge wachsen lassen. Zuletzt ist ihr der Rosmarin auf ihrem Balkon vertrocknet.

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