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Die feministische Variante von Woody Allen

SPIEGEL Online nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Diesmal: Eine Künstlerin will den Sexismus im Kunstbetrieb enttarnen – mit „Die gleißende Welt“ steht ein literarisch anspruchsvoller Roman voller neurotischer Figuren auf Platz 9 der Bestsellerliste. Wir beantworten die entscheidende Frage: Und das soll ich lesen?
Keller: Gute Nachrichten: So schlecht kann diese Welt gar nicht sein, wenn ein so feministischer, so nerdiger, so komplexer Roman wie Siri Hustvedts „Die gleißende Welt“ genauso viel Erfolg hat wie Krimis aus Venedig oder Frankreich. Freut dich das nicht auch?

Hammelehle: Doch. Neben „Judas“ von Amos Oz ist „Die gleißende Welt“ das literarisch anspruchsvollste Buch, das in diesem Jahr auf der Bestsellerliste steht. Und ich finde, die Geschichte der Künstlerin Harriet Burden lässt sich hervorragend lesen, auch wenn Hustvedt sie aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt.

Keller: Ich würde statt „auch wenn“ sogar „gerade weil“ sagen. Der Erzählrahmen ist ein wissenschaftliches Werk über Burden. All die Interviews, Zeugenaussagen, Erinnerungen und Zeitungsberichte darin ergänzen sich nämlich wirklich gut. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich die Passagen aus Burdens Notizbüchern mit Abstand am liebsten gelesen habe und dabei fast mehr Sätze unterstrichen habe als jemals im Deutsch-LK. Zum Beispiel diesen aus Notizbuch A: „Die Griechen wussten, dass die Maske im Theater keine Verkleidung ist, sondern ein Mittel der Enthüllung.“

Hammelehle: Die Masken, mit denen sich Burden in Hustvedts Geschichte tarnt, sind drei männliche Künstler, die Burdens Werk als ihr eigenes ausgeben. Damit will sie den Sexismus des Kunstbetriebs enttarnen. Den Plan finde ich nicht mal so überzeugend. Großartig aber ist Hustvedts Idee, dass Burden von einem anderen Künstler reingelegt wird, der das Spiel mit den Identitäten noch viel geschickter betreibt – und sie nicht nur beruflich, sondern auch privat betrogen hat. Auch das verbindet „Die gleißende Welt“ mit „Judas“: In beiden Büchern geht es um Verrat.

Keller: Dieser Machtkampf zwischen der zu kurz gekommenen Burden und dem mysteriösen Künstler Rune ist in der Tat ein Battle für die Ewigkeit. Ich fand allerdings die abstrakte Ebene dieses Romans mindestens genauso spannend: In welchem Verhältnis steht eigentlich die Persona des Künstlers zu seinem Werk?

Hammelehle: Und im Verhältnis zum Werk anderer? Eine der Pointen des Romans ist ja, dass es Burden unmöglich scheint, ihrem übermächtigen verstorbenen Mann zu entrinnen. Überhaupt ist „Die gleißende Welt“ ein Roman mit herrlich neurotischen Figuren.

Keller: Mit herrlich neurotischen, gebildeten Figuren. Vereinzelt wurde Hustvedt deshalb sogar vorgeworfen, dass das Buch – gleich seiner Hauptfigur Harriet Burden – zu verkopft sei. Es stimmt ja auch, dass sie weder mit Fußnoten noch mit Zitaten von Philosophen noch mit Verweisen auf andere Werke spart. Schon der Titel stammt von einem Science-Fiction-Roman von Margaret Cavendish, die im 17. Jahrhundert gelebt hat und als eine der ersten Autorinnen unter ihrem eigenen Namen publiziert hat.

Hammelehle: Wenn das verkopft ist, dann bin ich Immanuel Kant. „Die gleißende Welt“ ist ein herrlicher Gesellschaftsroman aus Manhattan. Auch wenn mir qua Geschlecht Feminismusdefinitionen eigentlich nicht zustehen, behaupte ich mal: die feministische Variante von Woody Allen.

Keller: Noch dazu mit einem so aufschlagkräftigen ersten Satz, dass man ihn erstens sofort unterstreichen möchte und zweitens in Zukunft erfreulicherweise niemand mehr die berühmte Grass-Phrase „Ilsebill salzte nach“ anführen muss, wenn es in irgendeinem Zusammenhang um erste Sätze geht. Wenn sich also eine Frage gar nicht erst stellt, ist es wohl ausgerechnet diese: Und das soll ich lesen?

Hammelehle: Warum denn nicht? Zumal meine Antwort „Ja!“ in diesem Zusammenhang sogar als Zitat von Molly Blooms berühmten Schlusswort aus James Joyce‘ „Ulysses “ durchgeht. Welche bessere Reverenz könnten wir einem geistreichen, tiefgründigen und in der literarischen Moderne verwurzelten Roman wie diesem erweisen? Und jetzt sag bloß nicht, dass du diese Antwort verkopft findest.

Maren Keller ist Redakteurin beim KULTUR SPIEGEL. Sie möchte unbedingt einmal in eine Ausstellung der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas.

Sebastian Hammelehle ist seit Neuestem Kulturredakteur beim SPIEGEL. Auf dem S-Bahnhof Korntal hat er am Donnerstag eine Frau beobachtet, die beim Auf-und-ab-Gehen gebannt in einem „Penguin Classic“-Taschenbuch las. Er konnte leider den Titel nicht erkennen.

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