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Die undurchschaubare Frau

SPIEGEL Online nimmt sich jede Woche den wichtigsten Neueinsteiger, Aufsteiger oder den höchstplatzierten Titel der SPIEGEL-Bestsellerliste vor – im Literatur-Pingpong zwischen Maren Keller und Sebastian Hammelehle. Diesmal „Judas“ von Amos Oz.

Keller: Ich muss gestehen, obwohl es sich bei den Büchern von Amos Oz um Weltliteratur handelt, habe ich noch nie etwas von ihm gelesen. Was habe ich da verpasst?

Hammelehle: Von einem Pastor in Potsdam hörte ich mal den Spruch: „Gestehen müssen Sie hier gar nichts, wir sind ja nicht beim Jüngsten Gericht.“ Womit wir fast schon beim Thema wären. „Judas“ hat mich beeindruckt wie kein anderer Roman in letzter Zeit. Amos Oz ist ein sagenhafter Erzähler, das Buch ist spannend, hat sehr plastische Figuren, aber eben auch diese faszinierende, eigentlich religionsphilosophische Ebene: das Thema Verrat durchdekliniert am Beispiel von Judas. Eine der Romanfiguren stellt die These auf: Ohne den Verräter Judas hätte es weder das Christentum noch den Holocaust gegeben.

Keller: Apropos Verrat: Verrat mir doch bitte kurz mit welchen Romanfiguren wir es überhaupt zu tun haben, bevor es mit der Religionsphilosophie losgeht.

Hammelehle: Nichts lieber als das. Es gibt drei Hauptfiguren, einen etwas verloren wirkenden jungen Mann, einen alten Mann, bei dem der junge Mann als eine Art intellektueller Sparringspartner angestellt ist – und eine begehrenswerte Frau mit anfangs undurchschaubarem Vorleben. Übrigens genau die starke Frauenfigur, die ich in Martin Suters „Montecristo“ so sehr vermisst habe. Das Buch spielt im Winter 1959/1960 in Jerusalem, die israelische Staatsgründung ist noch nicht allzu lange her. Ein jüdischer Dissident, also auch eine Art Verräter, spielte damals eine wichtige Rolle – der Vater der weiblichen Hauptfigur.

Keller: Und in welchem Verhältnis steht diese starke Frauenfigur zu den beiden Männern?

Hammelehle: Was glaubst du wohl? Der junge Mann verliebt sich in sie. Und der alte Mann warnt ihn davor, sich in sie zu verlieben. Der Verrat findet in „Judas“ auf vielen Ebenen statt. Auf politischer, familiärer, finanzieller Ebene – selbstverständlich auch in Form des Liebesverrats.

Keller: Sehr schön. Liebe und Verrat bleiben einfach die bewährteste Kombination. Jetzt zurück zur Religionsphilosophie. Kann man über Judas etwas lernen, das man nicht gerade im Ostergottesdienst gehört hat?

Hammelehle: Bei Amos Oz ist Judas „der Erfinder, der Impressario, der Regisseur und der Produzent des Schauspiels von der Kreuzigung“. Ursprünglich ein Spion, der im Auftrag der jüdischen Priesterschaft Jesus auskundschaften soll, verrät er eben diese Hintermänner und wird zum begeisterten Jünger Jesu‘. Zu dem Mann, der Jesus überredet, ausgerechnet am Pessachfest nach Jerusalem zu ziehen. Weil er glaubt, dass mit der Kreuzigung des Messias das Königreich des Himmels beginnt. Als er dann Jesus am Kreuz sieht, ist er schockiert: Weil Jesus stirbt wie jeder andere Mensch auch. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Hoffnungen wurden verraten. Und deshalb bringt er sich um.

Keller: Das klingt so interessant, dass ich die Frage „Und das soll ich lesen“ gar nicht zu stellen wage.
Hammelehle: Beantworten würde ich sie dennoch. Zumal ein „Ja“ kein Verrat am Wunsch mancher Leser nach einer sehr eindeutigen Empfehlung wäre.

Maren Keller ist Redakteurin beim KULTUR SPIEGEL. Eines ihrer Lieblingsbücher ist „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green.

Sebastian Hammelehle ist Kulturredakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine biblische Lieblingsfigur ist David. Volker Hage vom SPIEGEL hat ihm mal verraten, dass Joseph Heller einen sehr guten Davidsroman verfasst hat .

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