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Mit Thomas Cromwell auf den Bestseller-Olymp

Und es gibt ihn doch. Einen Man Booker Prize for Fiction ohne Hauen und Stechen zwischen den Juroren, ohne bissige Seitenhiebe der Medien und ohne lange Gesichter im Buchhandel, weil die Jury wieder einmal Großbritanniens renommierteste literarische Auszeichnung, nach der der Deutsche Buchpreis modelliert wurde, an einen völlig unbekannten Außenseiter vergeben hat.
Die fünfköpfige Jury, deren Zusammensetzung jährlich wechselt, ist für ihre Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit berühmt. In 41 Booker-Jahren hat sie Dutzende von Favoriten tief stürzen lassen. Und deshalb wundern sich viele in der britischen Buchbranche immer noch ein bisschen, dass 2009 mit Hilary Mantels Historienroman „Wolf Hall“ tatsächlich das Buch gewonnen hat, das alle seit Wochen unbedingt auf dem Siegespodest sehen wollten.

Dass die Entscheidung im zweiten Wahlgang mit drei zu zwei Stimmen knapp ausgefallen ist, spielt dabei keine Rolle. Wichtig ist, was der Jury-Vorsitzende James Naughtie in Anspielung auf frühere Preisverleihungen vor den laufenden Fernsehkameras der BBC sagte: „Alle Mitglieder der Jury sind mit der Entscheidung hoch zufrieden. Wir haben einen unumstrittenen Siegertitel und keinen Kompromiss.“

J. M. Coetzee ist der große Verlierer

Wer neben Mantel im Gespräch war, wollte Naughtie nicht sagen, aber alle Anzeichen deuten auf den Südafrikaner J. M. Coetzee und seinen Roman „Summertime“. Der Literaturnobelpreisträger von 2003 war der große Verlierer des Abends. Er hat den mit 50000 Pfund dotierten Literaturpreis schon zweimal gewonnen: 1983 für „Life and Times of Michael K“ und 1999 für „Disgrace“. Mit einem dritten Erfolg hätte er Booker-Geschichte geschrieben.

So steht Hilary Mantel im Rampenlicht, die vom Winifred Holtby Memorial Prize (1989 für „Fludd“) bis zum Hawthornden Prize (1995 für „An Experiment in Love“) zwar schon viele literarische Auszeichnungen gewonnen hat, aber es vor „Wolf Hall“  noch nicht einmal auf eine Booker-Longlist geschafft hatte. Gleichwohl hat auch die 57-Jährige eine Booker-Connection im Lebenslauf: 1990 war sie Mitglied der Jury, die ihrer diesjährigen Konkurrentin A.S. Byatt den Preis für deren Roman „Possession“ zugesprochen hatte.

Mantels Sieg wurde vor allem im Buchhandel mit großer Erleichterung aufgenommen, denn „Wolf Hall“ hatte schon im Vorfeld mit guten Verkaufszahlen Werbung in eigener Sache betrieben, die für das Taschenbuch große Dinge erwarten lassen: Seit Bekanntgabe der Shortlist Anfang September bis zum 7. Oktober, dem Tag der Verleihung, sind über 30000 Exemplare des literarischen Romans verkauft worden.

Als Naughtie um 22.20 Uhr Hilary Mantel als Siegerin verkündete, fiel der Jubel des Buchhandels deshalb besonders herzlich aus. Schon am Morgen nach der Preisvergabe hatten Waterstone’s, Borders und WH Smith alle verfügbaren Exemplare von „Wolf Hall“ auf Büchertischen und im Schaufenster gestapelt; auch der Supermarktriese Tesco hatte der Booker-Siegerin prominenten Platz eingeräumt.

Steile Bestsellerkarriere

Bei Mantels Verlag Fourth Estate, für den es der erste Booker-Sieger in seiner 25-jährigen Geschichte war, standen die Telefone nicht still. Noch am Abend des 7. Oktober hatte die HarperCollins-Tochter 100000 Exemplare nachdrucken lassen, die jedoch wahrscheinlich nicht reichen werden, denn der historische Roman über den steilen Aufstieg von Thomas Cromwell zum unentbehr­lichen Berater Heinrichs VIII. steht vor einer ebenso steilen Bestsellerkarriere. In weniger als zwei Wochen gingen laut Nielsen BookScan noch einmal mehr als 35000 Hardcover weg. Seit 1998, dem Jahr, als Nielsens Aufzeichnungen begannen, ist kein Booker-Sieger besser aus den Startlöchern gekommen.

Fakt ist, dass die wichtigste literarische Auszeichnung der englischsprachigen Literaturwelt ein vielfach bewährter „Königsmacher“ ist. Als grobe Richtlinie orientieren sich Verlage und Buchhandel an 100000 Hardcovern und 200000 Taschenbüchern, nach oben sind keine Grenzen gesetzt. So wurden von Vorjahressieger Aravind Adigas „White Tiger“ mittlerweile über 420000 Bücher in beiden Formaten verkauft. Es ist diese Zugkraft, mit der der Booker ähnlich renommierte Literaturpreise wie Spaniens Planeta-Preis oder den französischen Prix Goncourt kommerziell zumeist weit in den Schatten stellt.

Auch das Lizenzgeschäft hat seit der Preisverleihung kräftig angezogen. Jennifer Custer, die bei Mantels Literaturagentur A.M. Heath für die Übersetzungsrechte zuständig ist, hat eine hektische Frankfurter Messe hinter sich mit Lizenzverkäufen in ein Dutzend Länder. Ihr letzter Ge­sprächs­partner vor dem Rückflug nach London war DuMont-Verleger Lutz Wolf, der die deutschen Rechte nach Köln holte. S. Fischer, der vor Jahren mehrere Mantel-Romane herausgebracht hatte, hatte dagegen schon vor einigen Wochen abgewunken.

Anja Sieg, sieg@buchreport.de

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