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Hungern und Wandern

Am 4. August vor 150 Jahren wurde Knut Hamsun geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an den Roman „Sult“, der dem Autor zum Durchbruch verhalf. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

Sult

Hauptgattung: Epik/Prosa, Untergattung: Roman, (norw.; Hunger, 1997, S. Weibel)
Der handlungsarme, hauptsächlich aus Beobachtungen, Assoziationen und Reflexionen bestehende Roman, der 1890 erschien, berichtet aus der Perspektive des Ich-Erzählers von der Zeit um 1886, als dieser »in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist«. Der anonyme Erzähler ist ein introvertierter junger Intellektueller, der auf der tiefsten Stufe der sozialen Existenz dahinvegetiert. Seine einzigen Einnahmequellen sind das Pfandhaus und die Redaktionen verschiedener Zeitungen. Der Hunger, als Zentralmotiv des Romans in verschiedenen Stadien umschrieben, bringt ihn allmählich in einen Zustand psychosomatischer Debilität, in dem äußerste Wachsamkeit mit extrem geschärftem Wahrnehmungsvermögen und langsames, dem Tod nahes Dahindämmern einander ablösen.

Trotz der durch den Hunger hervorgerufenen schizoiden Verhaltensweisen lehnt er in verbissener Selbstachtung und einem selbst durch schlimmste Demütigungen nicht zu brechenden Stolz jede Hilfe ab und gerät dadurch zusehends in eine körperliche und seelische Katastrophe. 
Gleichsam als Ansatz einer ›Handlung‹ durchzieht eine Liebesgeschichte die vier Abschnitte des Buchs. Die Erfahrung, dass die Geliebte, der er den Namen »Ylajali« gibt, seine übersteigerte Sensibilität als Wahnsinn interpretiert, verschärft seine desolate Situation, doch jedes Mal, wenn der äußerste Punkt der Existenzmöglichkeit gekommen zu sein scheint, zeigt sich vorübergehend ein Ausweg.

Die Abstände zwischen den Krisen füllt der Held einerseits mit unablässigem Wandern durch die Stadt, andererseits mit unaufhörlichem Schreiben, wobei ihm die Aussichtslosigkeit seines Tuns kaum zu Bewusstsein kommt. Auf dem Höhepunkt der Krise, als kein Ausweg mehr möglich scheint, nimmt ihn ein russisches Schiff als Hilfsmatrosen mit nach England.
Die Tatsache, dass der Roman einen autobiographischen Bezug hat, dürfte für seine literarische Bewertung nur von untergeordneter Bedeutung sein, da durch die starke Stilisierung nicht so sehr Sujet und Handlung als vielmehr die literarische Verfahrensweise wesentlich erscheinen.

Die Wiedergabe von Geschehnissen spielt eine untergeordnete Rolle; stattdessen werden vor allem Beobachtungen, Assoziationen, Zuständlichkeiten und psychosomatische Vorgänge geschildert, die aus der extremen körperlichen und seelischen Verfassung des Erzählers gleichsam materialistisch-positivistisch motiviert werden. Mit den modernen Stilmitteln des inneren Monologs und der erlebten Rede, die Hamsun als einen der gewichtigsten Vorläufer von Proust und Joyce ausweisen, erreicht das Werk einen ›Sekundenstil‹, in dem bisweilen die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit ist. Die Technik dieses Erzählens besteht aus dem ständigen Wechsel vom vergegenwärtigenden Präsens zum erinnernden Präteritum. Im Psychogramm des Protagonisten spielen vor allem die Partien, in denen die ganze Umwelt und die Zeit durch sein assoziierendes Bewusstsein zergliedert werden, eine wesentliche Rolle und dienen gleichsam als dichterische Bestätigung von Hamsuns im selben Jahr erschienener zentraler Programmschrift »Fra det ubevidste Sjæleliv« (Vom unbewussten Seelenleben).


Lit.: A. Kittang: Luft, vind, ingenting, 1984. • ›Alles nur Kunst?‹ K. H. zwischen Ästhetik und Politik, Hg. R. Wolfert, 1999.
Fritz Paul

Zur Person: Knut Hamsun

geb. 4.8.1859 Lom (Norwegen)
 gest. 19.2.1952 Nørholm (Norwegen)
d.i. Knud Pedersen

Autodidakt; verschiedene Berufe, u. a. in den USA; 1890 literarischer Durchbruch mit Sult; Distanzierung von Ibsen und Kielland, Einflüsse von Strindberg und Dostoevskij; neuromantische Romane, realistische Werke über norwegische Bauern und Fischer, die sich jedoch durch die Erzählerironie und ihre ambivalenten oder nihilistischen Sinnangebote vom ›Heimatroman‹ unterscheiden; 1920 Nobelpreis für Markens grøde; ab 1935 Nazi-Sympathisant, 1947 Landesverräterprozess; großer Einfluss auf skandinavische Autoren; breite Rezeption in Deutschland; u. a. von Thomas Mann und Henry Miller bewundert.

Ausg.: Samlede verker, 15 Bde, 1954. • K. H.s brev, 6 Bde, Hg. H. Næss, 1994 ff.
Übers.: Sämtliche Romane und Erzählungen 1–5, 1958.
Lit.: R. Ferguson: K. H. Leben gegen den Strom, 1987. • W. Baumgartner: K. H., 1997.

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