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Topographie der Erinnerung

Am 13. Juli vor 75 Jahren wurde Wole Soyinka geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an das autobiographische Werk des Nobelpreisträgers. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

Das autobiographische Werk


Hauptgattung: Epik/Prosa, Untergattung: Memoiren/Biographie/Autobiographie, (engl.)


Das sogenannte ›autobiographische‹ Werk des nigerianischen Literatur-Nobelpreisträgers umfasst mittlerweile vier Bände: Aké. The Years of Childhood, 1981 (Aké. Eine Kindheit, I. Uffelmann, 1986), Isarà. A Voyage around Essay, 1989 (Isarà. Eine Reise rund um den Vater, I. Uffelmann, 1994), Ibadan. The Penkelemes Years. A Memoir: 1946–1965, 1994 (Ibadan. Streunerjahre 1946–1965, I. Hölscher, 1998), You Must Set forth at Dawn. A Memoir, 2006 (Brich auf in früher Dämmerung. Erinnerungen, 2008, I. Uffelmann). Dabei handelt es sich nicht um eine geschlossene Autobiographie nach traditionellem literaturwissenschaftlichem Verständnis, sondern vielmehr um komplexe Entwürfe persönlicher Erinnerungsräume, deren jeweilige Geltung sich über begrenzte Zeiträume erstreckt. In der Zusammenschau aber – und unter Hinzuziehung von Teilen des essayistischen Werks sowie der beeindruckenden Tagebuchaufzeichnungen seines Gefängnisaufenthalts 1967/68, The Man Died. Prison Notes, 1975 (Der Mann ist tot. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, U. Enzensberger/M. Walz, 1979) – ergeben diese vier Prosabände die Lebensbeschreibung eines künstlerisch, intellektuell und politisch reflektierten Autors, dem es erfolgreich gelang, sich im Gegen- und Miteinander von afrikanischen und englischen Traditionen und im Übergang von einer kolonialen zu einer postkolonialen Gesellschaft einzurichten.


Soyinka wurde 1934 im west-nigerianischen Abeokuta geboren, einer Kleinstadt in der Nähe der heutigen Metropole Ibadan. Nigeria war zu jener Zeit britische Kolonie und Soyinkas Vater als Schulleiter in deren Administration eingebunden. Selbst im Kreis der Familie wurde überwiegend Englisch gesprochen. Die zum christlichen Glauben übergetretenen Eltern trugen gleichwohl dafür Sorge, dass ihr Sohn durch wiederholte Besuche der Heimstatt seines Vaters auch mit den spirituellen Traditionen der Yoruba vertraut wurde. Diese doppelte religiös-kulturelle Sozialisation sollte sich als prägend nicht nur für die autobiographischen Schriften erweisen.


In den ersten drei Bänden zeigt sich dabei bereits an den Titeln, an deren Anfang stets der Name eines für die jeweils beschriebene Lebensphase zentralen Ortes steht, dass es Soyinka im Kern eher um eine Topographie denn um eine Chronologie der Erinnerung geht: Aké bezeichnet das Dorf, in dem die anglikanische Missionsstation liegt, in der Soyinka als Kind aufwuchs; Isarà heißt die kleine, den Traditionen verhaftete Yoruba-Gemeinde, der Soyinkas Vater entstammte; Ibadan schließlich ist die Universitätsstadt, in der Soyinka als Professor wirkte. Während Aké ohne Gattungsbezeichnung auskommt (und in der deutschen Ausgabe sogar als Roman bezeichnet wird), handelt es sich bei Isarà um ein literarisches Porträt des Vaters. Ibadan und You Must Set forth at Dawn hingegen werden ausdrücklich als Memoiren bezeichnet.

Es ging Soyinka dabei nicht so sehr um die Entwicklung der eigenen Lebensgeschichte, sondern um die Darstellung von wichtigen historischen Ereignissen und die Porträtierung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vor allem Künstlern, Intellektuellen und Politikern.
Die Kindheitserinnerungen Aké gehören zu den unbestrittenen Klassikern der modernen afrikanischen Literatur. Soyinka erzählt darin aus Sicht des bereits arrivierten Schriftstellers von den Jahren 1937 bis 1945. Seine Aufzeichnungen setzen mit der Beschreibung seines Geburtsorts ein und enden mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki – und der Aussicht auf das erste Paar Schuhe.

Die weltpolitischen Ereignisse sind nur ein Streif am Horizont; die Welt des Jungen wird vor allem von Familienmitgliedern getragen sowie von den Geistern, die immer noch das Leben der Gemeinschaft prägen, auch wenn diese bereits zum christlichen Glauben übergetreten ist. Das Pfarreigelände wird als ein Mikrokosmos erfahren, den der frühreife Junge schrittweise für sich entdeckt, bis es ihn in die Schule zieht, wo er seine Mitschüler schnell hinter sich lassen wird. Soyinka hat diese Erinnerungen eher assoziativ als chronologisch arrangiert; die von ihm Porträtierten wechseln z. B. je nach der sozialen Rolle, die sie gerade einnehmen, ihre Namen. Bei aller persönlichen Nostalgie vermeidet Soyinka es jedoch, diese Welt in Form einer paradiesischen Urszene zu beschwören.
Soyinkas Stil zeichnet sich dabei stets durch ein literarhistorisch ausgebildetes und wortgewaltiges Englisch aus, in das immer wieder Vokabeln und Wendungen aus dem Yoruba eingearbeitet sind, wodurch auch sprachlich auf Soyinkas doppelte kulturelle Zugehörigkeit verwiesen wird. Anmerkungen und Glossare erläutern zusätzlich den spezifischen kulturellen Kontext, der außerhalb Nigerias ja nur in sehr geringem Maße bekannt ist.

Im Übrigen pflegt Soyinka einen eher lyrischen Stil mit einer Vorliebe für impressionistisch anmutende Details, die weniger zu einem stringenten Spannungsbogen führen, als vielmehr zu einer dichten Beschreibung von Stimmung und Atmosphäre beitragen.
Nachdem Soyinka 1986 den Nobelpreis für Literatur erhielt, veröffentlichte er mit Isarà (1989) eine Hommage an seinen Vater, der hier Essay genannt wird, und schreibt damit einen Teil der Vorgeschichte seines eigenen Lebens. Dabei lassen sich Erfahrungswelten nachfühlen, die noch auf mythischen Vorstellungen gründen und damit auf die Zeit vor der Kolonisierung des Landes durch die Europäer zurückweisen: »Die Lebensführung, so scheint es, war derb, doch zugleich gekennzeichnet von der angestrengten Suche nach einem Platz in der neuen Ordnung«, schreibt Soyinka in seinem Vorwort.


Erst mit Ibadan (1994) knüpfte der mittlerweile zur Ikone eines unabhängigen Afrika gewordene Schriftsteller unmittelbar an den Schluss von Aké an und berichtete von den Jahren 1946 bis 1965. Dieser Memoirenband erschien in Großbritannien in eben jenem Jahr, als Soyinka aufgrund anhaltender Repressalien durch die nigerianischen Machthaber sein Heimatland verlassen musste. Das Wort ›Penkelemes‹ im Untertitel ist eine phonetische Schreibung der nigerianischen Aussprache von ›peculiar mess‹ und bedeutet in etwa ›Schlamassel‹. Die Erinnerungen des nun im Exil Lebenden beginnen mit einer ersten bedeutsamen Heimkehr nach Nigeria, die Soyinka als Ausgangspunkt diente, verschiedene Zeitebenen ineinander fließen zu lassen: In der unmittelbaren Gegenwart verbinden sich die Erinnerungen an Vergangenes mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Nigeria befand sich in dem beschriebenen Zeitraum in Aufbruchstimmung. Die britischen Kolonialherren zogen sich zurück, doch die einheimischen Eliten erwiesen sich schnell von der Anstrengung, eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt mit einer Vielzahl von einander nicht immer wohlgesonnenen Ethnien zu regieren, hoffnungslos überfordert. Nach dem erfolgreichen Studium in England erhielt Soyinka einen Ruf an die Universität der Provinzmetropole Ibadan.

Voller Optimismus wollte er sein in der Ferne erworbenes Wissen und Können dem gerade unabhängig gewordenen Nigeria zur Verfügung stellen. Doch Bespitzelungen, Einschüchterungen der Opposition, Staatsstreiche waren an der Tagesordnung. Selbst an seiner Universität wurde die Meinungsfreiheit immer stärker eingeschränkt. All dies, wie auch später der Biafra-Krieg, wird einer kritischen, dabei aber stets auch subjektiv geprägten Revision unterzogen. Die Freiheit des Memoralisten erschwert dem Leser mitunter allerdings das Verständnis für den zeitgeschichtlichen Kontext. Namen und Ereignisse werden vorrangig in ihrer Bedeutung für Soyinkas zunehmende Politisierung gewichtet.
Das Hin und Her zwischen Afrika nach Europa, die Auflösung der Grenzen von Heimat und Fremde, das nomadenhafte Wandern von einem Kontinent zum anderen, ob gewollt oder erzwungen, ist typisch für die afrikanischen Intellektuellen aus Soyinkas Generation. Auch die Fortsetzung seiner Memoiren, You Must Set Forth at Dawn (2006), ergibt eine subjektive politische Geschichte des heutigen Nigeria. Soyinka nahm seine Rückkehr aus dem Exil nach dem Tod des Diktators Sani Abacha (1998) zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung der Entwicklungen seit der Unabhängigkeit, vor allem der Gewalt, die sich in Korruption, Putschen, Ermordungen und Massakern ausdrückte. Zugleich widmete er politischen Freunden wie beispielsweise dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela und seiner Entwicklung als Schriftsteller den nötigen Raum, um einmal mehr deutlich zu machen, wie sehr die Entwicklung eines afrikanischen Schriftstellers vom Wechselspiel von Politik und Kunst geprägt ist.

Lit.: T. Döring/D. Naguschewski: Senghor und S. Sprachenfresser und Mythenmacher im postkolonialen Afrika, in: Anglo-romanische Kulturkontakte von Humanismus bis Postkolonialismus, Hg. A. J. Johnston/U. Schneider, 2002, 215–245. • O. Okome: Ogun’s Children. The Literature and Politics of W. S. since the Nobel, 2004.

Dirk Naguschewski

Zur Person Wole Soyinka


geb. 19.7.1934 Abeokuta bei Ibadan (Nigeria)
d.i. Akinwande Oluwole Soyinka

Literatur-Studium in Ibadan und Leeds; 1958/59 Dramaturg am Royal Court Theatre in London; 1960 Rückkehr nach Nigeria, Gründer mehrerer Theatergruppen und Lehrtätigkeit an verschiedenen nigerianischen Universitäten, später auch in Großbritannien und den USA; 1967–1969 Inhaftierung durch das nigerianische Militärregime wegen Vermittlungsversuchen im nigerianischen Bürgerkrieg, seither einer der führenden politischen Intellektuellen der Demokratiebewegung in Nigeria; als Autor von zahlreichen Theaterstücken, Romanen, autobiographischen Schriften, Gedichtbänden und Essays einer der bedeutendsten Vertreter der englischsprachigen Literatur Afrikas; 1986 Nobelpreis für Literatur.
Lit.: D. Wright: W. S. Revisited, 1993. • W. S. An Appraisal, Hg. A. Maja-Pearce, 1994. • M.-H. Msiska: W. S., 1998. • Conversations with W. S., Hg. B. Jeyifo, 2001. • K.-H. Stoll: Die Interkulturalität afrikanischer Literatur, 2003. • B. Jeyifo: W. S. Politics, Poetics and Postcolonialism, 2004.

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