buchreport

Suche nach dem Sinn des Seins

Am 1. Juli vor 100 Jahren wurde Juan Carlos Onetti geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an den Roman „Das kurze Leben“. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

La vida breve


Hauptgattung: Epik/Prosa
Untergattung: Roman, (span.; Das kurze Leben, 1978, C. Meyer-Clason)

Der 1950 erschienene Roman ist der ehrgeizigste des Autors und grundlegend für sein gesamtes späteres Werk. Komplex in Aufbau und Erzählstruktur, ist dieser von drei verschiedenen Erzählern präsentierte Roman, dessen Geschehen durch mehrere Doppelungen und Brechungen aufgespalten ist, für viele Kritiker aus späterer Sicht Vorläufer und Wegbereiter für die nachfolgenden Romane der lateinamerikanischen ›nueva novela‹. Geschult an Céline und vor allem Faulkner schuf Onetti ein fiktives Universum, das Schauplatz der Mehrzahl seiner Romane und Erzählungen wurde. Vergleichbar mit Faulkners »Yoknapatawpha County« ist der uruguayische Autor Schöpfer der Saga von Santa María, einer Provinzstadt an einem breiten Fluss, mit dem um einen Hauptplatz gruppierten Ortskern, einer Werft, einer Konservenfabrik, einer Arbeitersiedlung und der außerhalb gelegenen Kolonie europäischer Immigranten. Die ›Stadtgründung‹ erfolgt in La vida breve.
Juan María Brausen, Protagonist des Romans, steckt, wie die meisten von Onettis Hauptfiguren, in einer existenziellen Krise: »Mittlerweile bin ich dieser kleine, schüchterne, unveränderliche Mann, verheiratet mit der einzigen Frau, die ich verführt habe oder die mich verführt hat, außerstande, nicht nur ein anderer zu sein, sondern auch die Willenskraft zu haben, ein anderer zu sein […] das Männchen, gemischt unter die Legionen von Männchen, denen das Himmelreich verheißen war […] niemand in Wahrheit.« 40-jährig, frustriert von der Routine seines unbedeutenden, freudlosen Daseins, von seiner im Scheitern begriffenen, »verkommenen« Ehe und der beruflichen Erfolglosigkeit, sucht er nach einem Ausweg, einer Möglichkeit zur Flucht, einem neuen Sinn. Diese Flucht bewegt sich in zwei Bahnen, einer ›realen‹, nämlich der Annahme einer Doppelexistenz, und einer ›fiktonalen‹: Brausen entwirft den Plan für ein Drehbuch, für das er den Arzt Díaz Grey erfindet, »weil ich dort vor Jahren während vierundzwanzig Stunden grundlos glücklich gewesen war.« Díaz Grey, der in Onettis fiktivem Kosmos die Rolle eines »Gewissens der Stadt« und Kenners der Lokalgeschichte einnehmen wird, ist hier auch ein Doppelgänger oder eine Projektion seines Schöpfers Brausen, der sich schreibend teilweise mit seiner Figur identifiziert.
Getrieben von der Sehnsucht nach dem »kurzen Leben«, »dessen Dauer nicht ausreichen konnte, damit ich mich bloßstellte, bereute oder alterte«, gleiten beide Figuren, Brausen und Díaz Grey, über die Liebe – oder das Begehren – einer Frau ab in eine Welt der Unmoral, der Kriminalität und des gewaltsamen Todes. Brausen nimmt eine andere Identität an und wird als Juan María Arce der Geliebte einer Prostituierten, seiner Wohnungsnachbarin La Queca, die er zuvor tagelang durch die Wand seines Appartements in Buenos Aires belauscht hatte. Díaz Grey gerät über die Liebe zu seiner Patientin Elena Sala – die wiederum als Projektion von Brausens Ehefrau Gertrudis erscheint – in die Gesellschaft von Morphium-Dealern und ist nach dem Selbstmord der Frau sogar selbst an einer verbrecherischen Aktion beteiligt, kann sich jedoch vor einer Verhaftung retten. In Juan María Arce wächst der zwanghafte Entschluss, La Queca zu töten und mit seiner unmoralischen, sadistischen Existenz Schluss zu machen. Als ihm Ernesto, einer ihrer Freier, mit dem Mord zuvorkommt, flieht er, sich selbst für die Tat verantwortlich fühlend, mit ihm nach Santa María. Dort werden beide verhaftet.
Während die drei Erzählstränge Brausen/Arce/Díaz Grey zunächst noch getrennt nebeneinander fortgeführt werden, löst sich die Figur des Erzählers Brausen allmählich auf. An seine Stelle treten die beiden Doppelgänger, während seine Fiktion Santa María und ihre Bewohner sich von ihrem Schöpfer Brausen emanzipieren, der sich gewissermaßen in ihr auflöst, um in Gestalt seines Alter ego Arce am Ende in ihr aufgenommen zu werden. Díaz Grey beschließt den Roman im letzten Kapitel als selbständiger Ich-Erzähler. Nach seiner Auslöschung als Person lebt Brausen weiter in seiner Schöpfung. In allen späteren Büchern Onettis ist Brausen als ›fundador‹ (Gründer) Santa Marías in der Stadt gegenwärtig. Er erlangt bisweilen sogar den Status eines mythischen Ahnen mit gottähnlichen Eigenschaften.


›Das kurze Leben‹ des von einer Figur des Textes vorgetragenen Chansons bedeutet im Roman die existenzielle Suche nach dem Sinn des Daseins. Nach Onettis Auffassung kann sich eine Person, eine »Seele«, in verschiedenen Möglichkeiten oder Leben verwirklichen. Diese Überzeugung wird besonders deutlich, wenn man sein Gesamtwerk mit seinen vielfältigen intertextuellen Relationen und Verflechtungen betrachtet, in dem die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Figuren (Larsen, Medina, Jorge Malabia) in verschiedenen, voneinander unabhängigen Texten vorgeführt werden. In La vida breve ist die Multiplikation Brausens in andere, fiktive Identitäten Ausdruck ebendieser Auffassung. Sie ist letztlich ein Versuch der Überwindung und Rettung aus einer enttäuschenden und verzweifelten Lebensrealität. Der Sinn des »kurzen Lebens« liegt eben darin, jeden Augenblick des Lebens zu genießen, ohne belastende Vergangenheit und Furcht vor der Zukunft im Hier und Heute zu leben: »Alle Lebensweisheit […] beruht auf der schlichten Bequemlichkeit, uns in die Lücken der Ereignisse, die wir nicht mit unserem Willen ausgelöst haben, einzufügen, nichts zu erzwingen, jeden Augenblick einfach nur zu sein.«
Lit.: S. Merrim: ›La vida breve‹ o la nostalgia de los orígenes, in: Revista Iberoamericana 52, 1986, 135/136, 565–571. • L. S. Maier: A Mirror Game. Diffraction of Identity in ›La vida breve‹, in: Kentucky Romance Quarterly 34, 1987, 223–232.
Elisabeth Graf-Riemann

Zur Person: Juan Carlos Onetti

geb. 1.7.1909 Montevideo (Uruguay)
gest. 30.5.1994 Madrid (Spanien)

Gymnasium ohne Abschluss, Jobs als Kellner, Portier und Verkäufer; 1939 Redaktionssekretär von Marcha; verfasste Feuilletons unter Pseudonym; 1941–1945 Journalist in Buenos Aires; 1957 Direktor der Bibliotheken von Montevideo; ab 1975 in Madrid; Feuilletons und humoristische Gelegenheitsarbeiten, Romane im Umkreis des Existenzialismus.
Ausg.: Obras completas, 1970.
Übers.: Gesammelte Werke in 5 Bden, Hg. J. Dormagen/G. Poppenberg, 2009.
Lit.: D. Kadir: J. C. O., 1977. • R. E. Flores: O. Tres personajes y un autor, 2003. • M. Vargas Llosa: Die Welt des J. C. O., 2009.

Kommentare

Kommentar hinterlassen zu "Suche nach dem Sinn des Seins"

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Mit dem Abschicken des Kommentars erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihre Daten elektronisch gespeichert werden. Diese Einverständniserklärung können Sie jederzeit gegenüber der Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien-GmbH & Co. KG widerrufen. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutz-Richtlinien

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*