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Bestseller in Europa: bunt, vielfältig, europäisch

Wirft man nur einen kurzen Blick auf Bestsellerlisten und über Büchertische mit sogenannter Stapelware, möchte man meinen, die süßen Kinder von Graf Dracula hätten, unter amerikanischer Anleitung, allerorten gesiegt. Die Überschwemmung des europäischen Lesekontinents mit den dicken „Bis(s)“-Bänden von Stephenie Meyer besetzt in zahlreichen Bestsellerlisten gleich vier der zehn höchsten Ränge, und dies über Monate hinweg. Doch der erste, flüchtige Blick trügt.

Die Lesevorlieben quer durch Europa sind wesentlich vielfältiger, von Land zu Land unterschiedlicher und viel weniger von angelsächsischer Globalware geprägt als man erwarten würde. Eine eingehende Analyse der Top-10-Listen in den sieben wichtigen europäischen Buchmärkten – in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Schweden, Spanien und Großbritannien – über zwölf Monate, von April 2008 bis März 2009, ergibt ein Bild voller Überraschungen (hier die Liste der erfolgreichsten Autoren Europas 2008).

Erstens: Der Erfolg ist eurozentristisch

  • Von den 40 erfolgreichsten Autoren schreiben letztlich doch nur 13 auf Englisch. 8 schreiben auf Schwedisch, 5 auf Französisch, jeweils 4 auf Niederländisch und Deutsch, 3 auf Italienisch, 2 auf Spanisch und einer brasilianisches Portugiesisch.
  • Dies bedeutet jedoch auch, dass sich kein Autor aus einer der kleineren Sprachen – oder gar einer außereuropäischen Sprache – in die Topränge schreiben konnte.
  • Der betont eurozentristische Akzent wäre im Jahr davor allenfalls durch den türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk oder durch den japanisch-internationalen Literaturstar Haruki Murakami leicht unterlaufen worden. Umgekehrt sind die anglophonen Spitzenautoren zugleich breiter in ihrer Herkunft und in den Themen, die sie uns nahebringen. Hier schreibt der in Afghanistan geborene und mittlerweile zum Welt-Autor avancierte Khaled Hosseini über sein Land und dessen Kultur. Aravind Adiga, der Man Booker-Preisträger von 2008, verfolgt Karriereträume und Globalisierungsfantasien aus indischer Sicht; die erst 28-jährige Irin Cecelia Ahern schreibt vergleichsweise konventionell über Liebe und Romantik.

Zweitens: Romane beweisen Bandbreite

Themen wie auch literarisches Gewicht insgesamt sind viel weniger stromlinienförmig angelegt als kulturbewusstes Nasenrümpfen über Bestsellerlisten glauben machen möchte. Natürlich finden sich jede Menge Schwedenkrimis in den Bestsellerlisten, und der absolute europäische Starautor dieser Tage, der es in die dünne Luft an der steilen Spitze neben Khaled Hosseini und Stephenie Meyer europaweit geschafft hat, ist natürlich Stieg Larsson mit seiner Millennium-Trilogie. Natürlich wird insgesamt unter dem Sternenzelt des Erfolgs viel gemordet und auch deftig geknutscht und gefummelt – wir denken auch an Charlotte Roche, die nach Deutschland auch in den Niederlanden und in England das Thema „Feuchtgebiete“ etablieren konnte.

Aber wer hätte gedacht, dass zu den Spitzenautoren auch solche gehören wie Muriel Barbery mit ihrer „Eleganz des Igels“ und den verschrobenen Predigten einer Pariser Concierge, die über die Hausmieter, ihre einzige Freundin und über Immanuel Kant doziert, oder Uwe TellkampsDer Turm“? Trivialliteratur sieht jedenfalls anders aus.

Drittens: Die Vorlieben sind sehr regional

Analysiert man die Strukturen hinter den Erfolgstiteln eingehender, wird rasch eine weitere Kennlinie deutlich: Die Lesevorlieben zwischen einzelnen Ländern unterscheiden sich sehr stark. Es gab zuletzt Monate, in denen in Schweden die Top 10 tatsächlich ausschließlich mit schwedischen Krimis bestückt waren, während in Spanien Ausflüge in die Weiten von Geschichte, Eroberungen und Guerra Civil kaum jemals fehlen dürfen. Während sich Deutschland gut als erster außerskandinavischer Herd für die nun europaweite Epidemie des Schwedenkrimis darstellen lässt, mit Henning Mankell als wohl wichtigstem Türöffner, so war der Erfolg von Stieg Larssons Millennium-Trilogie in Deutschland gerade mal durchschnittlich, während er in Frankreich und im Gefolge in Spanien und Italien schlicht eine Kategorie für sich allein bildete.

Viertens: Karriere ist keine Konzernstärke

Zu den interessanten Erkenntnissen gehört auch, dass die Konzernverlage keinesfalls die Top-Ränge untereinander ausmachen. Im Gegenteil, viele der europäischen, nicht-anglophonen Bestseller haben konzern-unabhängige Verlage hinter sich, wie etwa in Frankreich Actes Sud mit Larsson und Gallimard mit Muriel Barbery oder in Deutschland Suhrkamp (mit Tellkamp) oder Hanser (etwa mit Gavalda).

Fünftens: Der Erfolg ist breit und divers

Die Spitze ist sehr schmal und steil. Nur weniger als ein Dutzend Autoren ist in drei oder mehr Ländern ganze vorn mit dabei. Hier zeigt sich jene Dynamik, die wir für die Buchmärkte als den Harry-Potter-Effekt zu erkennen gelernt haben, der jedoch in den unterschiedlichsten Bereichen durch systematische kumulative Verstärkung zutage tritt; bei Suchmaschinen (Google) oder Online-Buchhändlern (Amazon) gibt es diese Verdrängungseffekte genauso wie bei Computersoftware (Microsoft).

Spannender ist, wie breit und divers das Feld bei Büchern und Autoren gleich unter dieser Spitze wird und wie sehr hier häufig erst einmal der Erfolg – oft über viele Titel hinweg – im Ursprungsland aufgebaut wird. Nahezu alle der von uns näher untersuchten Top-40-Autoren der letzten 12 Monate wurden in etliche europäische Sprachen übersetzt, blieben aber dort dann oft nur im Mittelfeld oder gar in einer engen Nische. Zu denen, die es letztlich geschafft haben, zählt Ildefonso Falcones. Mit seiner „Kathedrale des Meeres“ war er zunächst ein für lange Zeit außerhalb seines Landes kaum beachteter Spitzenautor, bevor sich das Buch europaweit durchsetzte.

Reicht der Informationsfluss nicht?

Hier lässt sich vermuten, dass es Verlagen, Handel und den Medien häufig schlicht noch an entsprechender Fach- und Hintergrundinformation fehlt, um bei der Bewerbung eines übersetzten Titels Erfahrungen gut nutzen zu können, die die Leser schon im Ursprungsland begeistert haben. Die hier vorgelegte Analyse ist entsprechend auch ein (gewiss noch ungenügender, verbesserungsfähiger) Anlauf, über die Sprach- und Marktgrenzen hinweg die europäischen Buch- und Lesemärkte gesamtheitlich zu betrachten.

Zu wenig Neugier beim Lizenzeinkauf?

Ein seltsames Paradox wird aber schon aus dieser Zusammenschau deutlich, nämlich die Diskrepanz der vergleichsweise breit sortierten Palette bei den Erfolgstiteln einerseits sowie andererseits dem riesigen Überhang ganz weniger Sprachen bei den Lizenzverkäufen – mit Englisch, in weitem Abstand gefolgt von Deutsch und Französisch, und nur marginalen Anteilen von Übersetzungen aus allen anderen Sprachen.

Hier deutet einiges drauf hin, dass die Neugierde seitens der Lesenden vielfältiger ist als das die Akteure am Markt oft wahrhaben wollen. Hier könnte ein besseres und breiteres Informationsangebot über Titel und Entwicklungen quer durch Europa wohl interessante Impulse für den europäischen Buchmarkt vermitteln.
Rüdiger Wischenbart/Miha Kovac

www.wischenbart.com/publishing

Liste der erfolgreichsten Autoren Europas 2008

Zur Methode:

Grundlage für die Analyse der Bestseller in sieben wichtigen europäischen Buchmärkten waren die jeweils nationalen Top-10-Bestsellerlisten von Boekblad (NL), The Bookseller (GB), buchreport/Spiegel-Bestsellerliste (D), El Cultural (E), Livres Hebdo/Ipsos (F), Svensk Bokhandel (S) und eine gemischte Top-20-Belletristik- und Sachbuchliste von Informazioni Editoriali (I), die wir im Zeitraum April 2008 bis März 2009 jeweils monatlich ausgewertet haben.

Wir konzentrierten uns bei der Auswertung auf die Autoren und erst nachrangig auf Titel und Verlage, weil wir davon ausgehen, dass die Autoren die relevanten Markenträger ihrer Werke sind und nicht umgekehrt.

Um die einzelnen Listen zu einem Gesamtbild zusammenzuführen, vergaben wir für jede Platzierung eines Autors unter den jeweiligen Top-10-Listen einen Punktewert (mit 50 Punkten für eine Platzierung während eines Monats auf Platz 1, mit 49 Punkten für Platz 2 usw.) Wir gewichteten bei der Vergabe von Punkten ausdrücklich nicht nach der Größe eines Landes oder Marktes, weil Lese- wie Buchmarktstatistiken immer wieder deutlich machen, dass etwa die Bevölkerungszahl und die Zahl der Leser oder Buchkäufer in unterschiedlichen Ländern Europas sehr verschieden sind.

Aus methodischen Gründen bleiben All-Age-Titel (in diesem Fall von Stephenie Meyer, J. K. Rowling und Cornelia Funke) bei der Analyse weitgehend außen vor, weil diese in manchen Ländern unter „Belletristik“ (z.B. in Deutschland, Frankreich), und in anderen unter „Young adult fiction“(z.B. in GB) aufgeführt werden und diese Listen miteinander nicht vergleichbar sind. In der Tabelle sind die Autoren und ihre so nur in einigen Märkten erzielten Punkte deshalb kursiv gesetzt.
Das von uns eingeführte Punktesystem kann indessen als gesamteuropäischer Impakt Faktor verstanden werden. Mehr zu unserer Beschäftigung mit europäischen und internationalen Buchmarkt- und Übersetzungsstatistiken.

aus: buchreport.magazin 5/2009

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