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Wie dramatisch darf es sein, Herr Steingart?

Gabor Steingart liebt als Buchautor die Provokation. Der Washington-Korrespondent des „Spiegels“ über zeitgemäße Sachbücher, die deutsche und US-amerikanische Debattenkultur und das Lebensthema Wirtschaftskrise.

Sie haben gerade Ihre dreiwöchige Lesereise mit Ihrem Buch „Die Machtfrage“ in Deutschland beendet. Wie lautet Ihr Fazit?
Es war eine wunderbare Zeit: Die Abende mit oft Hunderten von Leserinnen und Lesern waren stets kontrovers. Dass die Parteien in einem kritischen Zustand sind, darüber herrschte meist Einigkeit, Widerspruch gab es indes in der Frage, was das geeignete Mittel gegen die Erstarrung bei den Parteien sein kann – Erste-recht-Wählen, die Neugründung einer Partei oder eben das Nicht-Wählen. Reibung erzeugt Energie – insofern war es eine fruchtbare Debatte.

Hat Sie der Widerstand überrascht?
Nein, ich kenne Deutschland und weiß, dass Provokationen hierzulande als das verstanden werden, was sie sind: eine Aufforderung zum Widerspruch. Meine Leser sind mindestens so streitlustig wie ich. Der erste Satz bei den Lesungen lautete daher immer, dass meine folgenden Ausführungen für viele eine Zumutung sein werden, aber es in meinen Augen eine notwendige Zumutung ist.

Wie unterscheidet sich die Rezeption solcher Bücher in den USA von Deutschland?
In den USA werden Sachbücher etwas anders geschrieben: erzählerischer, einfacher oft, in der Sprache bildhafter – weshalb ich mein Buch zur Globalisierung für den US-Markt zur Hälfte neu geschrieben habe. Der Autor muss in Amerika „reporting on the ground“ liefern, also anekdotisch erzählen. In Deutschland werden Sachbücher oft „expertiger“ verfasst. Ich versuche allerdings, genau das zu vermeiden. Ein gutes Sachbuch muss sich so spannend lesen wie ein Krimi. Positiv überrascht hat mich, dass in den USA jeder Autor, der eine Botschaft hat, willkommen ist, trotz Ausländerstatus. Ich war von allen großen TV-Stationen zum Interview eingeladen. Autoren anderer Länder haben es in Deutschland nicht so leicht.

Also sind uns die USA nicht nur in der demokratischen Kultur, wie Sie in Ihrem neuen Buch behaupten, sondern auch in der Debattenkultur überlegen?
In den USA gibt es eine, aus England stammende, Tradition, Provokationen und ihr spielerisches Element nicht nur als solche zu erkennen, sondern zu mögen. Ein gutes Thesenbuch ist immer wie eine Theateraufführung: dramatisierend, schrill, laut, nicht wie das wirkliche Leben, sondern übertreibend. Dieses Verständnis ist in den USA weiter verbreitet als in Deutschland. Hier wird mir von Journalisten und weniger von Lesern oft die Frage gestellt, ob das nicht gefährlich sei, was ich schreibe. Darf man das? Übers Nicht-Wählen schreiben und es empfehlen? Der Journalist ist in meinem Verständnis ein Fehlergucker. Was er schreibt, ist immer gefährlich – vor allem für die, die Fehler zu verantworten haben.

Die Grenzen zwischen journalistischen Artikel und Sachbüchern scheinen heutzutage zu verschwimmen: Eine „Spiegel“-Serie könnte als Buch ausgekoppelt werden, Ihre Bücher haben Sie teilweise vorab als Artikel platziert. Für welche Themen ist welche Form geeignet?
Das Sachbuch muss sich seinen Platz in der schnelllebigen Zeit erkämpfen, indem es aus der Aktualität das Konzentrat herausfiltert. Es muss Wichtiges von Unwichtigem trennen. Muss Stellung beziehen und darf nicht nur beschreiben. Dann hat es seine Berechtigung und erzielt hohe Auflagen. Ein gutes Sachbuch sollte versuchen, ein moderner Klassiker zu werden, indem es ein Thema sehr tiefgründig behandelt und auch den Zeitungs- und Online-Lesern einen neuen Blickwinkel bietet.

Die Stimmen zu Ihrem Buch „Die Machtfrage“, die auf der das Buch begleitenden Seite demokratie-erneuern.de gesammelt werden, sollen in gedruckter Form erscheinen. Mit welchem Ziel?
Die besten Online-Kommentare sollen im Anhang der Taschenbuchausgabe erscheinen. Dieses Prinzip habe ich mir in den USA abgeguckt, wo es neben dem auch in Deutschland üblichen Vorabdruck und dem Buch meist noch einen Rückkanal zum Autor gibt, in der Regel in Form von Online-Foren zu den Büchern. Das lieben auch die deutschen Leser.

Das Dialogische im Internet hat auch zur Demokratisierung des Journalismus beigetragen: durch Kommentarfunktionen oder indem die Klickzahlen einzelner Artikel den Chefredakteuren signalisieren, welche Themen bei den Lesern beliebt sind. Begrüßen Sie diese Entwicklung?
Absolut. Auf Spiegel Online kann man schon nach kurzer Zeit sehen, ob ein Artikel bei den Lesern angekommen ist. Das muss nicht bedeuten, dass der Autor Zustimmung erhält. Zu meinem letzten Artikel über den G20-Gipfel gab es nach wenigen Tagen 22 Seiten mit Leserkommentaren – ein kleiner Text produziert ein Vielfaches an kontroversen Leserreaktionen. Ich habe alle gelesen – und viel gelernt. Dieses Prinzip, dass Autor und Leser gleichberechtigt kommunizieren, begradigt die Hierarchien in den Redaktionen. Das ist ein Stück praktischer Demokratie, für die es keine Gesetzesänderung braucht.

Sie haben bisher in Ihren Büchern stets große Themen gewählt: „Deutschland – Abstieg eines Superstars“ behandelt den Abstieg der westlichen Hegemonie, „Die Machtfrage“ diskutiert den Abstieg der Demokratie in Deutschland. Was wird Ihr nächstes Thema?
Dafür ist es noch zu früh. Mein Nicht-Wählerbuch ist ja erst seit einigen Wochen in den Buchläden. Ich denke allerdings darüber nach, ob die gegenwärtige Krise, die mögliche neue Große Depression, das Lebensthema unserer  Generation sein könnte. Wir alle versuchen, noch zu verstehen, was diese Krise für unsere Wirtschaft, unser politisches System und uns selber bedeutet. Wenn ich darauf eine plausible Antwort gefunden habe, greife ich zur Feder. Die Krise erschreckt und fasziniert mich.

Zur Person: Gabor Steingart

1962 in Berlin geboren, leitete von 2001 bis Ende Juni 2007 das Berliner Hauptstadtbüro des „Spiegels“ und ist heute für das Büro in Washington tätig. Im März und April hat Steingart bei einer Lesereise in Deutschland sein fünftes und neuestes Buch „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“ (Piper) vorgestellt.

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