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Aus der Schattenwelt des Lumpenproletariats

Heute, am 29. April vor 124 Jahren wurde einer der besten Reporter aller Zeiten geboren. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an das Buch „Der rasende Reporter“ von Egon Erwin Kisch. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.
Der rasende Reporter
Hauptgattung: Epik/Prosa
Untergattung: Bericht
(dtsch.) – Die 1925 erschienenen gesammelten Reportagen zeigen, wie Kischs andere Reportagebände Hetzjagd durch die Zeit (1926) und Wagnisse in aller Welt (1927) auch, die für den deutschsprachigen Journalismus folgenreichen Ansätze zu einer kritischen Wirklichkeitsdarstellung. Seinen Reportagestil, der sich durch distanzierte Sachlichkeit auszeichnet, entwickelte Kisch zwischen 1906 und 1913 als Lokalreporter in Prag. Neben denkwürdigen Ereignissen interessieren ihn vor allem Themen aus der Schattenwelt des Lumpenproletariats. Im Vorwort zum Rasenden Reporter, der seinen fast legendären Ruf begründete, stellt Kisch einen Katalog der Formen und Ziele seiner Berichterstattung zusammen: Er geht davon aus, dass der Reporter weder Künstler noch Politiker, sondern ein ganz »gewöhnlicher Mensch« ist, dessen Werk einzig »vermöge des Stoffes« wirkt. Nur der Wille zu nüchterner Sachlichkeit vermag die Gefahr einer subjektiven Entstellung der Realität zu unterdrücken. Für den Reporter gilt allein die Tugend der Objektivität, die keiner Rechtfertigung bedarf: »Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern.« Die Abhängigkeit von festen Tatsachen und prüfbarem Material zwingt ihn zu untendenziöser Wiedergabe der Wahrheit. In einer Welt, »die von Lüge unermeßlich überschwemmt ist«, zeigt Kisch, was es heißt, die kritisch erlebte Wirklichkeit in Gestalt unretouchierter Zeitaufnahmen zu fixieren. Objektivität aber bedeutet nicht Teilnahmslosigkeit, sondern vielmehr eine unparteiische Verpflichtung zum Menschlichen.
Gemeinsam ist den Reportern der Zug zum Außergewöhnlichen; ganz Europa ist Schauplatz der geschilderten Ereignisse. Kisch notiert mit knapper, aber erschöpfender Information einmalige Aktualitäten (»Spaziergang auf dem Meeresgrund«, »Flug über Venedig«), berichtet von historischen Untersuchungen (»Nachforschungen nach Dürers Ahnen«, »Dem Golem auf der Spur«) und zeichnet mit Vorliebe ungewöhnliche Lokalitäten, wie die Hochschule für Taschenspieler, ein Leichenschauhaus und die Wohnung des Scharfrichters von Wien. Bisweilen verpackt er die nackte Information in fiktive Handlung (»Referat eines Verbrechers über die Polizeiausstellung«) oder lockert den sachlichen Bericht mit trockenem Humor auf. In seinen Elendsberichten (»Mit Auswanderern durch Frankreich«, »Bei den Heizern des Riesendampfers«) verfremdet er die mitleiderregenden Einzelheiten durch kalte, jede Emotion erstickende Reihung und Häufung, denn die erschütternde Sprache der Fakten überzeugt weit stärker als deren gefühlsbetonte Ausdeutung (»Feldpost nach dem Sturm«, »Die Mutter des Mörders und ein Reporter«). Kisch charakterisiert exakt Milieu, Idiom und Zeitkolorit; eine kaleidoskopartige, durch Tempo und Faktizität bestimmte Darstellungstechnik machte Kisch zum Reporter der ›neuen Sachlichkeit‹ und zum eigentlichen Begründer der literarischen Reportage. Zielen die Berichte im Rasenden Reporter noch auf die Sensationslust und das Amüsement eines bürgerlichen Lesepublikums, so wandelte sich Kischs Wirkungsabsicht im Zuge der radikaler werdenden politischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik. Ab 1927 schrieb Kisch seine Reportagen als dezidiert marxistischer Publizist; 1933 wurden seine Werke Opfer der Bücherverbrennung.
• Lit.: K. Haupt/H. Wessel: K. war hier. Reportagen über den ›Rasenden Reporter‹, 1985.
Manfred Kluge / KLL

Egon Erwin Kisch


geb. 29.4.1885 Prag (Tschechien)
gest. 31.3.1948 Prag (Tschechien)

Ab 1904 Volontär und Lokalreporter beim Prager Tageblatt; überregionaler Erfolg mit Kriminalreportagen; 1912 erste Reportagensammlung: Aus Prager Gassen und Nächten; Kriegsteilnahme, nach Verwundung 1915 Mitarbeit im Wiener Kriegspressequartier; Beteiligung an Revolution in Wien; ab 1921 einer der populärsten Reporter Berlins; 1933 verhaftet, in die Tschechoslowakei abgeschoben, 1937/38 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, 1940–1946 Exil in Mexiko; 1946 Rückkehr nach Prag; Journalist, Publizist und Schriftsteller.
• Lit.: M. G. Patka: E. E. K.: Stationen im Leben eines streitbaren Autors, 1997. • Der rasende Reporter E. E. K. Eine Biographie in Bildern, Hg. M. G. Patka, 1998.

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