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Glaube an die Kraft der Liebe

Am 8. April wäre  Jaques Brel 80 Jahre alt geworden. Zum Jahrestag erinnert buchreport in Kooperation mit dem Verlag J.B. Metzler an das lyrische Werk des Franzosen. Ein Auszug aus dem neuen Kindlers Literatur Lexikon, das am 4. September 2009 erscheint.

Das lyrische Werk

Bereits 1969 wurde der Autor in die renommierte Buchreihe »Poètes d’aujourd’hui« (Dichter von heute) aufgenommen. Mit der literarischen Qualität seiner Chansons beschäftigen sich seitdem zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten. Nach einigen schweren Jahren feierte Brel in Paris mit Liedern wie »Quand on n’a que l’amour« (»Wenn man nur die Liebe hat«) seine ersten großen Erfolge. Länger als ein Jahrzehnt triumphierte er dann in zahlreichen Tourneen mit einem umfangreichen Repertoire, bevor er sich 1967 plötzlich von der Bühne zurückzog.

Die ersten Chansons zeugen noch von Brels anfänglichem idealistischen Glauben an die Kraft der Liebe: »Wenn man nur die Liebe hat / Um zu Kanonen zu sprechen / Und nur ein Lied / Um einen Trommler zu überzeugen. […] So wird doch in unseren Händen / Freunde die ganze Welt sein«). Zur gleichen Zeit entwickelt das Chanson »Sur la place« (»Auf dem Platz«) das symbolbehaftete Tableau eines allein auf einem sonnendurchglühten Platz tanzenden Mädchens, das die Menschen für einen Augenblick der göttlichen Gnade teilhaftig werden lässt: »Desgleichen erscheint an bestimmten Tagen / Eine Flamme vor unseren Augen / In meiner Kirche / Nannte man sie den Lieben Gott / Der Liebende nennt sie Liebe / Der Bettler Barmherzigkeit / Die Sonne nennt sie Tag / Und der einfache Mann / Die Güte«.
Wird die Liebe in diesen ersten Liedern wie »Le grand voyage« (»Die große Reise«) noch als Aufbruch verstanden, so weicht die anfängliche Hochstimmung bald einem sich in »Le prochain amour« (»Die nächste Liebe«) zur Obsession steigernden Gefühl des Scheiterns: »Ich weiß, ich weiß, daß diese nächste Liebe / Für mich die nächste Niederlage sein wird«, das in der Selbsterniedrigung des Mannes in »Ne me quitte pas« (»Verlass mich nicht«) gipfelt, der die Abwendung der Geliebten nicht wahrhaben will: »Laß mich Schatten Deines Schattens werden / Schatten Deiner Hand / Schatten Deines Hundes / Verlaß mich nicht«.

Aus der tief empfundenen Furcht, von einer besitzergreifenden Frau in die Mittelmäßigkeit zurückgestoßen zu werden (»Bald wirst du mich verschwendet haben / Mit Deinem Wunsch, Dir ein ewiges Glück zu bauen / Zum Sterben langweilig«), sind Brels misogyne Ausbrüche wie »Les biches« (»Die Hirschkühe«) zu deuten. Doch karikiert beispielsweise das Chanson »Les bigotes« (»Die bigotten Frauen«) nicht nur das absurde Verhalten von Frauen, »die es vorziehen / Von Vesper zu Vesper von Messe zu Messe dahinzurunzeln / ganz stolz darauf, daß sie ihn behüten konnten / den Diamanten in ihren bigotten Ä…n«, sondern skizziert exemplarisch die existenzielle Bedrohung von Freundschaft und Zärtlichkeit durch Stumpfheit, Bigotterie, Konformismus, Fanatismus und Scheinheiligkeit aller Art.
Auch die berühmte Satire »Les flamandes« (»Die Fläminnen«) nimmt weniger die flämischen Bäuerinnen selbst aufs Korn (»Sie tanzen, weil sie 20 Jahre alt sind / Und mit 20 muß man sich verloben / Sich verloben, um heiraten zu können / Und heiraten, um Kinder zu kriegen«), sondern warnt, wie viele andere Chansons, vor der allmählichen Sklerose des in der bürgerlichen Gesellschaft gefangenen Menschen. So vermag in »Ces gens là« (»Leute dieser Art«) die Tochter einer Mutter, die »zu gern jemand wär‘ / und kriegt nicht raus den Dreh / denn wer zu sein ist schwer mit Null im Portemonnaie«, es nicht mehr, mit ihrem Liebhaber, der von einem Haus träumt, das fast nur Fenster hat, ihrer erbärmlichen kleinbürgerlichen Familie zu entfliehen: »Leute dieser Art Monsieur, die gehn nicht fort«.

In die satirische Entlarvung des Rückfalls in bourgeoise Mittelmäßigkeit bezieht Brel stets sich selbst mit ein und verzweifelt in »Vivre debout« (»Aufrecht leben«) an der Möglichkeit einer aufrechten Haltung des Menschen: »Da knien wir nieder / Wo unsre Hoffnung nur noch / Auf ein Gebet hinausläuft / Wo es zu spät ist / Und nichts mehr zu gewinnen ist / Bei all jenen Treffen / Die wir versäumt haben. / Wär’s unmöglich denn, aufrecht zu leben«. Um diesem alltäglichen, schleichenden Dahinsterben des Spießers zu entgehen, beschwört Brel immer häufiger den Tod selbst, den wahren Tod in grandiosem Dekor: »Das goldene Alter ist dann, wenn man stirbt […], wenn man die Augen endlich offen hat / Aber nicht mehr sich selbst ansieht / Sondern das Licht«), um in »Le dernier repas« (»Das letzte Mahl«) die letzten Stunden als großes Fest zu feiern, als letzte Revolte, die doch in den letzten Minuten dem Eingeständnis der Schwäche weicht: »Ich weiß, ich werde Angst haben / Ein allerletztes Mal«.

Brels belgische Heimat ist Thema einiger seiner bekanntesten Chansons. So verbindet das wohl poetischste Lied des Chansonniers, »Le plat pays« (»Das flache Land«), die Schilderung der flämischen Landschaft unter dem wechselnden Einfluss der vier Jahreszeiten mit der schwankenden Stimmungslage des Poeten, die von extremer Depression »Mit Kathedralen als einzigen Bergen / Und schwarzen Glockentürmen gleich Kletterbäumen / Von denen steinerne Teufel die Wolken abhängen« bis hin zu euphorischem Glücksgefühl reicht, vermittelt durch die vom Süden kommende Wärme: »Wenn der Wind dabei ist, zu lachen, wenn der Wind im Kornfeld ist / wenn der Wind im Süden ist, höret es singen / Das flache Land, das meines ist«. Auch in »Marieke«, einem teils in flämischer, teils in französischer Sprache verfasstem Chanson, korrespondiert die Schwermut des ›plat pays‹ mit der Gemütsverfassung des Sängers: »Ohne Liebe, warme Liebe / stirbt der Sommer, der traurige Sommer / und scheuert der Sand über mein Land / Mein flaches Land, mein Flanderland«.

Brels Technik der Kontrastierung und der oft steigernden Variation machen aus vielen Chansons regelrechte ›Minidramen‹, deren Wirkung von Musik und Vortrag unterstützt wird. Zwischen den Strophen, die einer Szene oder einem Akt entsprechen, ist die Zeit vergangen, hat sich die Situation verändert. So schildert »Les bourgeois« (»Die Spießbürger«) in drei nur wenig variierenden Strophen die allmähliche ›Verspießerung‹ dreier Freunde, die in den ersten zwei Strophen noch Spottlieder auf die Bürger singen (»Die Spießbürger sind wie Schweine / Je älter so was wird, desto blöder wird es«), in der dritten Strophe aber bei »Monsieur le Commissaire« über die nunmehr auf sie selbst – die nun behäbige Notare sind – gesungenen Beleidigungen jammern. Das Chanson »Orly« bringt den verzweifelten Abschied eines Liebespaars inmitten einer völlig teilnahmslosen Menschenmenge auf die Bühne. Die ›condition humaine‹ schlechthin zeichnet Brel in seinem wohl berühmtesten Chanson »Amsterdam«, dessen expressionistische Schilderung trinkender Seeleute in einem grandiosen Finale explodiert, das die Realität mit den Träumen und Sehnsüchten dieser ›einfachen‹ Männer mischt: »Und sie drehen sich und tanzen / wie ausgespuckte Sonnen / Zum zerrissenen Klang / eines ranzigen Akkordeons […] / Und wenn sie genug getrunken haben / stecken sie ihre Nasen in den Himmel / schneuzen sich in die Sterne / Und pissen, so wie ich weine / Auf die untreuen Frauen«.

Brels Vortragsstil trug wesentlich zur Popularität seiner Chansons bei, doch hatten Übersetzungen und Adaptionen seiner Lieder auch in anderen Sprachen Erfolg. Interpreten waren z. B. David Bowie, Ray Charles, Frank Sinatra, Tom Jones, Liesbeth List, Hermann Van Veen, Angelo Branduardi, Michael Heltau und Werner Schneyder.

• Lit.: C. A. Holdworth: Modern Minstrelsy. Miguel Hernández and J. B., 1979. • T. Weick: Die Rezeption des Werkes von J. B., 1991. • J.-L. Pétry: Étude sur J. B., 2003.
Wolfgang Rössig

Zur Person: Jacques Brel

geb. 8.4.1929 Brüssel (Belgien)gest. 9.10.1978 Bobigny (Frankreich)Verließ, statt die väterliche Fabrik fortzuführen, 1953 Frau und Kinder, um Musik zu machen; 1953 erste Kabarettauftritte in Paris; 1967 Rückzug von der Musikbühne, Schauspieler und ohne Erfolg Regisseur; 1976 in Polynesien; starb an Lungenkrebs; neben Gauguins Grab auf der Südseeinsel Hiva Oa bestattet; ab Ende der 1950er Jahre gemeinsam mit Brassens populärster französischer Chansondichter.

Mehr zum neuen Kindler unter www.derkindler.de

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