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Gezerre um Buchecken

Der Ravensburger Buchverlag – einer der größten deutschen Kinder- und Jugendbuchverlage – setzt seit Jahren bei seinen Pappbilderbüchern ein mehrstufiges Verfahren der Qualitätskontrolle ein. Im März 2007 wurde Ravensburger von einem unabhängigen Prüfer dennoch erstmals mit negativen Testergebnissen bei einer Reihe von Pappbilderbüchern konfrontiert, die deshalb in der getesteten Form nicht erscheinen durften. Ausschlaggebend waren abgedrehte Buchecken, die der Kombination aus Drehmoment- und Zugprüfung nicht standgehalten hatten.

Die Ravensburger gaben daraufhin im hauseigenen Labor einen Prüfbericht in Auftrag, für den eine Auswahl von 18 Standard-Pappbilderbüchern der Konkurrenz getestet wurden. Dabei zeigte sich, dass bei der überwiegenden Mehrzahl der getesteten Pappbilderbücher Drehmoment- und Zugprüfung zu negativen Testergebnissen führen, wenn die Prüfklemme an den Ecken des Buches angesetzt wird. Geschäftsführerin Renate Herre (Foto: Lisa Berger) legt in Anlehnung an einen Vortrag, den sie im Juni auf der avj-Mitgliederversammlung gehalten hat, im folgenden Beitrag die Problemlage dar und sagt, wie Ravensburger mit anderen Verlagen eine Lösung des Problems herbeiführen will:

Da Pappbilderbücher für Kinder unter drei Jahren als Spielzeug gelten, greifen hier die Bestimmungen der EU-Richtlinie „Safety of Toys“ bzw. der darauf beruhenden nationalen Norm DIN EN 71. Ein Pappbilderbuch muss bestimmten chemischen und mechanischen Tests unterzogen werden, bevor es verkauft werden darf. Die mechanischen Tests, insbesondere die Drehmoment- und Zugprüfungen, stellen sicher, dass durch Spieleffekte wie Klappen, Drehscheiben und dergleichen keine gesundheitsgefährdenden verschluckbaren Kleinteile entstehen. Selbst bei Standard-Pappbilderbüchern, also ohne Spieleffekte, werden jedoch gemäß aktueller Prüfpraxis Drehmoment- und Zugprüfung angewandt. So kann unter Umständen durch das Drehen an einer Buchecke ein verschluckbares Kleinteil entstehen. Dies war der Grund, warum der Ravensburger Buchverlag im März des vergangenen Jahres erstmals ein negatives Testergebnis erhalten hat.

Aus meiner Sicht und der meiner avj-Kollegen besteht kein Zweifel daran, dass alle in einem Pappbilderbuch enthaltenen Inhaltsstoffe wie Pappe, Lacke und Leime chemisch getestet werden müssen und deren Unbedenklichkeit nachgewiesen werden muss. Drehmoment- und Zugprüfung sind dagegen unserer Meinung nach im Standard-Pappbilderbuchbereich nicht erforderlich: Kleinkinder nehmen bekannterweise Bücher gern in den Mund und lutschen mit Vorliebe an den Ecken.

Kein noch so starkes Pappematerial kann einer solchen Behandlung standhalten. Bei entsprechend intensiver Einspeichelung kommt es immer wieder vor, dass sich Papierfasern ablösen und somit verschluckbare Kleinteile entstehen, auch ohne mechanische Einwirkung. Wie unser Austausch mit renommierten Fachärzten und Spezialisten zeigt, sind jedoch solche Pappe-Kleinteile für Kinder völlig ungefährlich, da sie auf normalem Weg von ihnen problemlos verdaut und wieder ausgeschieden werden.

Funktionalität und Ästhetik würden leiden

Die gegenwärtige Prüfpraxis stellt eine Gefährdung für alle Standard-Pappbilderbücher dar. Bleiben die einschlägige Norm und die daraus abgeleitete Prüfpraxis bestehen, müssen alle Anbieter das Material ihrer Pappe-Produkte für Kinder unter drei Jahren verstärken, um formal die Sicherheitsanforderungen zu erfüllen. Eine Materialverstärkung würde jedoch die Funktionalität und Ästhetik der Produkte beeinträchtigen und die Wirtschaftlichkeit verschlechtern, ohne die Produktsicherheit zu verbessern.

Lobby-Arbeit in Brüssel läuft

Um auf diese Problematik aufmerksam zu machen, sind wir mithilfe des Börsenvereins in Kontakt mit dem Europäischen Parlament in Brüssel getreten. Nach der Sommerpause wird dort über eine Neufassung der Richtlinie „Safety of Toys“ beraten. Über verschiedene Ansprechpartner versuchen wir mit dem Verband, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen. Wenn wir mit unseren Argumenten überzeugen können, werden Pappbilderbücher in die Liste von Ausnahmefällen im Anhang der Richtlinie aufgenommen. Wenn nicht, ist ein zentrales Segment des Kinder- und Jugendbuchmarktes nachhaltig bedroht.

aus buchreport.spezial „Kinder- & Jugendbuch“, September 2008

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