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Keine Lust auf Karitas

Der E-Book-Markt wird derzeit vorwiegend von der Genre-Literatur (besonders Romantik, Spannung) vorangetrieben. Die Literatur gerät zunehmend ins Hintertreffen, fürchten namhafte Autoren, die sich solidarisieren wollen, um die digitale Zukunft stärker selbst zu gestalten – und sich dabei deutlich von Verlagen lossagen.
In einer von Schriftstellern wie Elfriede Jelinek, Jan Peter Bremer, Marcus Braun, Katharina Hacker und Ingo Niermann unterschriebenen „Deklaration“ zur „digitalen Zukunft unserer Literatur“ monieren die Autoren, dass die eigenen „besondere Konzentration erfordernden literarischen Texte“ in der Medien-Konkurrenz und in der Konkurrenz um eine insgesamt begrenzte Aufnahmefähigkeit an Stellenwert verlören – fast jeder könne heute seine Texte weltweit anbieten und sich über sie austauschen. Statt sich dem digitalen Medium zu verweigern, müssten neue Methoden entwickelt werden, um die Literatur den Lesern digital zu vermitteln. 
Mit Blick auf die Verlage winken die Autoren dabei allerdings ab. Diese hätten auf die Herausforderungen durch das digitale Zeitalter „vor allem defensiv reagiert“. Die Debatte um das E-Book sei in den letzten Jahren von der Frage der „prospektiven Wirtschaftlichkeit des Schreibens und Verlegens von Büchern“ beherrscht gewesen. „Allein die rigide juristische Verteidigung des bestehenden Urheberrechts wurde zum Garanten für das Fortbestehen anspruchsvoller Literatur ausgerufen.“
Zusammenfassend heißt es weiter: „Der Eindruck, dass das Verlegen von Büchern, die sich nicht sofort gut verkaufen, einem karitativen Akt gleichkommt, hat unser Schreiben beeinträchtigt. Es ist an der Zeit, dass wir nicht länger nur zusehen, wie sich die Bedingungen für unsere Literatur verschlechtern, sondern selbst nachzudenken und zu erproben, welche Chancen die Digitalisierung auch für die Verbreitung unserer Werke bietet“..
Hinter der Deklaration steht das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Projekt „Fiktion“ (hier die Webseite), in dem deutsch- und englischsprachige Autoren Perspektiven im digitalen Zeitalter ausloten. Nach der Arbeit im Rahmen von Workshops soll die Debatte jetzt öffentlich fortgesetzt werden. Die „Deklaration“ soll am 12. September um 19 Uhr im Haus der Kulturen der Welt präsentiert werden.
Hier das komplette Text der Deklaration:
Zur digitalen Zukunft unserer Literatur

Fiktion und das Haus der Kulturen der Welt haben im Frühjahr 2013 mehrere Workshops ausgerichtet, in denen Autorinnen und Autoren mit Experten der Verlagsbranche und der Humboldt Law Clinic Internetrecht diskutiert haben, welche Chancen das digitale Zeitalter gerade auch für eine besondere Konzentration erfordernde Literatur bietet. Mit der folgenden Deklaration soll diese Diskussion öffentlich fortgesetzt werden.

Nie wurde so viel gelesen und geschrieben wie heute. In den letzten vierzig Jahren hat sich der Anteil der Analphabeten an der Weltbevölkerung auf unter zwanzig Prozent halbiert, und er sinkt weiter. Kinder aller Milieus führen eine rege Privatkorrespondenz, was früher einer Elite vorbehalten war. Noch vor zwei Jahrzehnten drohte sie aufgrund des Telefons gänzlich zu verschwinden. Heute wird das, was sich weiterhin Telefon nennt, vor allem zum Schreiben und Lesen genutzt.
Das alltägliche Schreiben lässt die Schwelle, auch selbst Gedichte, Geschichten und Romane zu verfassen, sinken. Fast jeder kann seine Texte weltweit anbieten und sich über sie austauschen. Wer damit größeren Erfolg hat, kann anschließend auch in traditionellen Verlagen reüssieren.

So wunderbar das ist, geraten doch unsere besondere Konzentration erfordernden literarischen Texte beim Konkurrieren um eine insgesamt begrenzte Aufnahmefähigkeit zunehmend ins Hintertreffen. Dieser Prozess hat schon vor der Einführung des E-Books begonnen. Sich diesem Medium zu verweigern kann darum nicht die Lösung sein, sondern wir müssen neue Methoden entwickeln, mit denen wir unsere Literatur den Lesern digital vermitteln.

Bisher waren wir bestrebt, uns von kommerziellen Verlagen umfassend betreuen zu lassen: Sie lektorierten unsere Bücher, setzten, druckten, vertrieben und bewarben sie, verwerteten auch die Nebenrechte und beteiligten uns an den Erlösen – im besten Fall Buch für Buch, bis irgendwann die Zeit gekommen war für eine kritische Gesamtausgabe. Je weniger Umsatz unsere Literatur macht, desto weniger Aufwand wird für unsere Bücher betrieben, und in vielen Buchhandlungen sind sie von vornherein nur auf Bestellung lieferbar. Viele ältere Titel werden nicht einmal als E-Book angeboten. Die kommerziellen Verlage haben auf die Herausforderungen durch das digitale Zeitalter vor allem defensiv reagiert: ihr Programm verkleinernd, fusionierend, Mitarbeiter einsparend und sich auf Bestseller konzentrierend. Auch den sich für unsere Literatur aufopfernden Kleinverlagen fällt es in dieser Situation immer schwerer, sich am Buchmarkt zu behaupten.

Der Eindruck, dass das Verlegen von Büchern, die sich nicht sofort gut verkaufen, einem karitativen Akt gleichkommt, hat unser Schreiben beeinträchtigt. Es ist an der Zeit, dass wir nicht länger nur zusehen, wie sich die Bedingungen für unsere Literatur verschlechtern, sondern selbst nachzudenken und zu erproben, welche Chancen die Digitalisierung auch für die Verbreitung unserer Werke bietet:

  • Da E-Books unabhängig von ihrem kommerziellen Erfolg weltweit bereitgestellt werden können, müssen nicht mehr die ersten Wochen nach Erscheinen über Erfolg oder Misserfolg eines Titels entscheiden, sondern die Aufmerksamkeit kann sich langsam und unter Ausschluss der Massenmedien entwickeln.
  • Um E-Books zu vertreiben, ist es nicht zwingend erforderlich, sie zu verkaufen. Auch wir bevorzugen, von der Verwertung unserer Bücher zu leben, statt uns auf eine Weise zu verdingen, die uns vom Schreiben abhält. Aber wir wollen bei jedem unserer Bücher frei sein zu entscheiden, ob und wann wir es nicht besser verschenken.Dass Lesen Geld kostet, ist ein Übel, dessen Notwendigkeit es immer neu zu beweisen gilt.
  • Die gängigen E-Book-Formate imitieren das gedruckte Buch und erweitern es um Zusatzfunktionen, die für Sachbücher von Vorteil sein mögen, vom Lesen unserer Literatur aber eher ablenken. Es fehlt ein digitales Leseformat, das die technischen Möglichkeiten nutzt, um die Konzentration auf unsere Literatur zu erleichtern.
Die existierenden Internetportale und -foren mögen für den Selbstverlag von Genre-Literatur ausreichend sein. Unsere Werke hingegen benötigen eine intensive individuelle Betreuung und ein Neugier weckendes Umfeld. Darum müssen wir uns zusammentun – ob als Genossenschaft, Stiftung, Verein oder Initiative, ob mit Hilfe von Einlagen, Spenden, Beiträgen, Sponsoring oder Förderung. Nur indem wir gemeinsam unsere Rolle als Autorinnen und Autoren neu bestimmen, kann unsere Literatur insgesamt wieder an Bedeutung gewinnen.
Unterzeichnet von:

Marcus Braun


Jan Peter Bremer


Nina Bußmann


Mathias Gatza


Katharina Hacker


Elfriede Jelinek


Ingo Niermann


Urs Richle


Michael Schindhel
m

Sabine Scholl

Kommentare

5 Kommentare zu "Keine Lust auf Karitas"

  1. Christian Spließ | 8. November 2013 um 0:25 | Antworten

    Da muss man wohl eine Nacht drüber schlafen ums ganz zu verstehen, aber was den Punkt „reine Konzentration auf den Inhalt“ angeht: Ich weiß ja nicht wies für den Kindle oder den – hochgehypten – Tolino aussieht, aber wenn ich ein ePub-Sachbuch herunterlade habe ich allenfalls mal die Ilustrationen dabei – im besten Fall in Farbe und Bunt – und kann mich sehr gut auf den Inhalt konzentrieren. Ich finde sogar, diese Spielereien, die bei Apple möglich sind werden für innovative und interessante Zwecke überhaupt schlecht oder gar nicht eingesetzt. Und ich bezweifle auch, dass man beim Lesen eines Textes von Elfriede Jelinek irgendwelche bunten Blink-Blink-Accesoire-Bildergalerie-Widget-Geschichten hinmacht, die für Sachbücher oder interaktive Kinderbücher sicherlich angebrachter sind. Von daher ist der Punkt schon mal irgendwie – undurchdacht.

  2. Viel „Leiden“ wenig Lösungen! Und auch „anspruchsvolle“ Literatur sollte sich für denjenigen der sie schreibt oder als Verlag verlegt, irgendwann rechnen. Natürlich sind die Zeiträume hier länger. Aber wenn es sich auch nach 3, 5 oder 10 Jahren nicht lohnt – wer sollte es dann machen? Wer hat denn bitte genug Geld / Erbschaft / Lottogewinn um rein aus Spaß an der Sache zu schreiben ohne seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen?! Schreiben aus Spaß – das geht nur wenn man eben solche Erbschaft oder einen akzeptablen Erst-Job hat. Warum sollte es Verlagen und Arbeitnehmern da anders gehen?
    Am Ende: Was sollen denn „technische Lösungen“ sein die die „Konzentration auf unsere Literatur erleichtern“? Und warum sind Verlage dafür am Pranger dass heutige Leser sich in der medialen Inhalte-Schwemme nicht mehr auf längere, anspruchsvollere Texte konzentrieren können? Klar ist das bedenklich – aber da muss jeder Einzelne selbst zu der Erkenntnis kommen. Das kann niemand – und schon gar nicht Verlage oder Autoren die sich das wünschen mögen – diktieren. Als Leser streike ich da und lese was ich will, nicht was „künstlerisch wertvoll“ ist! Bitte dies zu bedenken…

  3. Mir vermittelt sich der Sinn dieser Aktion noch nicht:
    1. Hier wird so getan, als habe es bisher im Self Publishing keine „echte“ Literatur gegeben. Sie mag sich schlechter verkaufen als Vampirromane, aber es gibt sie. (Und braucht man dafür dann eine Vereinigung?)
    2. Sich gegen „Karitas“ wehren („Der Eindruck, dass das Verlegen von Büchern, die sich nicht sofort gut
    verkaufen, einem karitativen Akt gleichkommt, hat unser Schreiben
    beeinträchtigt“), aber dann Bücher verschenken wollen??? Damit womöglich das Pricing im E-Book-Markt verderben?
    Werden Dienstleister wie Grafiker, Lektoren etc. denn in solchen Fällen mit Gotteslohn bezahlt oder mit Fördergeldern, die auch wieder Dritte berappen?

    Leute, schreibt doch einfach Literatur und verlegt sie selbst. Machen einige Autoren seit Jahren, inklusive Backlist von Verlagsbüchern!

  4. Hut ab!
    Es ist höchste Zeit, dass sich Autorinnen und Autoren wie diese zu Wort melden und von den Verlagen einfordern, was deren Aufgabe ist – gute Literatur zu entdecken, zu fördern und zu den Lesern zu bringen und sich dabei innovativ den Möglichkeiten der digitalen Medien zu bedienen. Wenn die Verlage dazu nicht bereit sind, aus welchen Gründen auch immer, gibt es auch keine Rolle für sie.

  5. Roswitha Schäfer-Neubauer | 9. September 2013 um 12:46 | Antworten

    Super!!

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